„Die große Koalition ist wohl endgültig Geschichte“. Mit diesen Worten eröffnete Claudia Reiterer jüngst eine Diskussion im ORF-Format „Im Zentrum“. Doch Totgesagte leben bekanntlich länger. Vor allem dann, wenn eine inszenierte Zuspitzung auf die „Kanzlerfrage“ und eine mit dieser angeblich verbundene Richtungsentscheidung zwischen „Schwarz-Blau“ als Sinnbild für „Kälte“ und „Neoliberalismus“ auf der einen und „Demokratie“ und „Gerechtigkeit“ auf der anderen Seite die einstigen Großparteien an Wählerstimmen stärkt.
Schon von ihren Namen her eignen sich die Kanzlerkandidaten von SPÖ und ÖVP – Kern und Kurz – vorzüglich für eine Konfrontation: Beide Male „K“, beide Male vier Buchstaben. Und beide sind – im Gegensatz zu Strache – (relativ) neu und unverbraucht. Wagen wir eine Prognose: Die ÖVP wird dank Sebastian Kurz zweifellos zulegen. Die SPÖ wird mindestens stabil bleiben. Kern kann gerade bei gebildeteren jungen Wählern punkten und hat es geschickt verstanden, sich auch nach einem Jahr Kanzlerschaft in keine Richtung festzulegen.
Wenn Kern am Ende des Tages einen Tick vor Kurz liegt, weil Kurz ja doch zu jung, zu „unsozial“, zu „neoliberal“ sei, wird Kurz kaum den Vizekanzler in einer SP-VP-Koalition abgeben, sondern sich dank seiner weitgespannten Netzwerke vermutlich aus der Politik in Richtung Privatwirtschaft oder in Richtung internationale Organisationen verabschieden. Dann übernimmt irgendein Kämmerer die ÖVP und wird Vizekanzler – in einer massiv gestärkten, womöglich sogar mit Zweidrittelmehrheit ausgestatteten Großen Koalition.
Aus der Position des Zweiten heraus Schwarz-Blau zu starten, ist Kurz nicht zuzutrauen (falls er dies denn aus der Position des Ersten vorhätte). Zu groß wäre der Unmut in breiten Kreisen der ÖVP, die – wie der zurückliegende Präsidentschaftswahlkampf gezeigt hat – die FPÖ aus staats- und geschichtspolitischen Gründen noch vehementer von der Macht fernhalten wollen als die politische Linke. Zu rot-affin erscheint außerdem die derzeitige FPÖ, deren in der Schüssel-Ära sozialisierte Führungsriege fürchtet, von der ÖVP neuerlich (angeblich) über den Tisch gezogen zu werden und ihre zahlreichen aus SPÖ-Milieus stammenden Wähler zu verlieren.
Rot-Blau eint zwar ein Rachemotiv auf beiden Seiten, denn für die SPÖ sind die Februartage des Jahres 2000 das Schlimmste, was ihr seit Dollfuß passieren konnte. Doch würde es die SPÖ in einer bundesweiten Koalition mit Strache möglicherweise „zerreißen“. Auch der Sache nach wäre gegen eine solche Linkspopulismus-Koalition Rot-Schwarz vermutlich das kleinere Übel.
Dass die FPÖ Erster werden könnte, ist nicht (mehr) zu erwarten: Nicht nur funktioniert die gegen sie gerichtete Medienmaschinerie zu gut – es sind ihr auch wichtige Themen abhandengekommen: Griechenland ist aus den Medien, die offensiv bejahte unkontrollierte Massenzuwanderung ist (derzeit) Geschichte. Die EU erscheint nach dem „Brexit“ geschwächt und jedenfalls weit davon entfernt, die Vereinigten Staaten von Europa auszurufen. So bleibt der FPÖ von ihren traditionellen Themen nur eine ins Monströse aufgeblasene „Islamisierung“ und eine SPÖ-affine Nestwärme-Rhetorik („soziale Heimatpartei“).
Die FPÖ hat in Wahrheit das größte Problem mit der durch Kern und Kurz gegenüber 2015 (wenn auch nur scheinbar!) massiv veränderten Situation. Ihre Zugewinne werden sich in Grenzen halten. Einzig Ulrike Lunacek als neue Spitzenfrau der Grünen erscheint als ein Geschenk der Grünen an die FPÖ, das dieser die nötige Polarisierung sichert. Zwar stellt sich die FPÖ im beginnenden Wahlkampf durchaus geschickt als den einzigen Garanten dafür dar, dass sich festgefahrene Machtverhältnisse tatsächlich ändern. Dennoch: Viele bürgerlich-konservative Wähler werden Kurz wählen, vielleicht auch im Glauben an eine Neuauflage von Schwarz-blau, um am Ende die Große Koalition gestärkt zu haben.
Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph und Buchautor. Soeben erschienen: Flucht und Schuld. Zur Architektonik und Tiefenstruktur der „Willkommenskultur“. Ares Verlag, Graz 2017.