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Die blinden Flecken der Geschichte

Der Name Gudula Walterskirchen bürgt wie kaum ein anderer für profunde Kenntnis der Zwischenkriegszeit. Nach zwei Biographien (Engelbert Dollfuß und Ernst Rüdiger Starhemberg) widmet sie sich in ihrem jüngsten Buch jenen „blinden Flecken“ der ersten Republik, die bislang meist nur eine einseitige Würdigung erfahren haben. In wissenschaftlicher Kleinarbeit hat sie die Gerichtsakten des Schattendorfer Prozesses aufgearbeitet und sich selbst mit den komplizierten Fragen an die Geschworenen auseinandergesetzt.

Auch im Zusammenhang mit den anderen heißen Eisen – Brand des Justizpalastes 1927, Februaraufstand 1934, Anschluss 1938 – hat Walterskirchen anhand zahlreicher Primärquellen die damalige Lage nachgezeichnet und die seinerzeitige Stimmung der ideologischen Überladung nachvollziehbar gemacht. In einer Zeit, die noch kein Fernsehen, kein Internet, keine Sozialen Medien und keine e-Mails gekannt hat, war die Bedeutung der Tageszeitungen ungleich einflussreicher und die Verbreitung von Fake News eher üblich.

Erhellend sind so manche Details, die offenlegen, welche Kräfte an einer Radikalisierung und welche an einer Beruhigung der Lage interessiert waren. Der Rolle der Nationalsozialisten im Februar 1934 ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet.

Diejenigen, die sich eine detaillierte Befassung mit dem NS-Putschversuch 1934 wünschen mögen, seien auf die Biographie der Autorin über Engelbert Dollfuß verwiesen. Sie befasst sich allerdings ausführlich mit der Bewertung jener Zeit, die je nach Standpunkt unter den politisch richtungsweisenden Begriffen „Ständestaat“ oder „Austrofaschismus“ apostrophiert werden.

Signifikant ist die Gegenüberstellung zweier Fotos in der Mitte des Buches, die aus derselben Perspektive aufgenommen worden sind. Das eine Bild zeigt einen Heldenplatz voller Menschen anlässlich der Trauerfeierlichkeiten für Engelbert Dollfuß im August 1934. Das andere Bild zeigt einen ähnlich vollen Heldenplatz im März 1938 anlässlich der Beendigung des freien Österreich.

Diese Parallelität ist nicht nur verblüffend, sondern war möglicherweise auch intendiert. Auch wenn man es vermutlich nie nachweisen kann: Die Niederlage in Österreich 1934 und die Bilder einer selbstbewussten und freien Bevölkerung könnten Adolf Hitler so provoziert haben, dass er sich die Verkehrung des kollektiven Gedächtnisses durch gänzlich andere Bilder gewünscht hat, die um die Welt gehen sollten. Wenn selbst heutzutage die Linke wie auch die Rechte die Geschichte auf die Bilder Jahres 1938 fokussieren, gönnen sie Adolf Hitler – wenn auch ungewollt – einen propagandistischen Sieg. Mit den nunmehr gegenübergestellten Bildern wird einer solchen Intention eindrucksvoll entgegengewirkt.

Der Kampf um die Deutungshoheit der Zwischenkriegszeit hat in manchen Kreisen quasireligiösen, ja identitätsstiftenden Charakter. Wer sich hingegen auf wissenschaftliche und offene Weise dieser Zeit nähern möchte, seien „Die blinden Flecken der Geschichte“ nachhaltig ans Herz gelegt.

Gudula Walterskirchen: „Die blinden Flecken der Geschichte: Österreich 1927-1938“ (K&S). (Buch bei Amazon)

Dr. Georg Vetter ist selbständiger Rechtsanwalt in Wien. Er ist Nationalratsabgeordneter der ÖVP.

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