Watschentanz um die "kalte Progression"

Kalte Progression ist ein Phänomen, das in einem geldinflationären Umfeld aus einem progressiven Einkommenssteuersystem resultiert, wenn keinerlei Korrekturen des Steuertarifs erfolgen. Jede Lohnerhöhung wird dann zur zusätzlichen Beute des Fiskus, weil auf sie der jeweilige Grenzsteuersatz zur Anwendung kommt.

In der Alpenrepublik sind es horrende 55 Prozent, die der Staat im Extremfall beansprucht. Der Arbeitgeber zahlt zwar mehr, der Arbeitnehmer merkt aber nicht viel davon, und der Finanzminister darf sich die Hände reiben. Das Perfide ist die Lautlosigkeit, mit der die Sache für ihn läuft. Geklagt wird allemal über niedrige Einkommen, nicht aber darüber, wie weit – dem Fiskus sei Dank – die Nettoeinkommen unter den Bruttobezügen liegen.

Die Wirkung der letzten, mit riesigem Tamtam umgesetzten Steuerreform wird durch die kalte Progression schon in wenigen Jahren egalisiert sein. Was von der famosen „Reform“ dann noch übrigbleiben wird, ist die Registrierkassenpflicht, die mutmaßlich bereits Hunderte Kleinbetriebe zur Aufgabe veranlasst hat und noch veranlassen wird. Belastbare Daten dazu werden übrigens entweder nicht erhoben oder geheim gehalten. Die „Statistik Austria“, die ansonsten über jeden Furz peinlich genau buchführt, hält sich zu dieser Frage jedenfalls schamhaft bedeckt.

Wie dem auch sei: Um den von den Koalitionären bereits seit Jahren in Aussicht gestellten, bislang aber nicht einmal begonnenen Kampf gegen die kalte Progression ist nun ein regierungsinterner Streit entbrannt. Während die Schwarzen eine Regelung anstreben, von der alle Einkommensbezieher profitieren sollen, also auch die „Besserverdiener“, wollen die Roten nur die untersten Steuertarifstufen entlastet sehen – was in der Konsequenz eine weitere Verschärfung der Progression bedeuten und höhere Bezüge verhältnismäßig noch stärker belasten würde. Und das in einem Land, in dem zweieinhalb Millionen Werktätige (41 Prozent) von jeder direkten Steuerpflicht ausgenommen sind oder sogar noch mit „Negativsteuern“ (welch ein aberwitziges Wortkonstrukt!) gesegnet werden.

Der koalitionsinterne Watschentanz um die kalte Progression bietet immerhin einen guten Anlass, grundsätzliche Überlegungen anzustellen. Eine davon: Weshalb steht eine im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 erstmals formulierte Idee, die sich explizit auf die Zerstörung der Bourgeoisie richtet, nämlich die Einführung eines progressiv wirkenden Steuersystems, heutzutage vollständig außer Streit? Naheliegender Grund: Offensichtlich ist der einst freie „kapitalistische“ Westen – der unermüdlichen Wühlarbeit sozialistischer Politiker, linker Intellektueller und Publizisten sei Dank – vollständig marxistisch durchseucht. Eine alternative Erklärung ist jedenfalls weit und breit nicht zu finden. Denn weshalb sollten – abseits neidgetriebener und/oder ideologisch fundierter Einfälle – hohe Einkommen überproportional stark belastet werden? Auch eine Proportionalsteuer, ein „Flat-Tax-System“, würde ja höhere Einkommen selbstverständlich stärker belasten als niedrige. Allerdings wäre ein solches System – sofern im Zusammenhang mit vom Staat unter Strafdrohung erhobenen Tributen und Schutzgeldern davon überhaupt die Rede sein kann – gerecht. Jedenfalls wäre ein für alle gleichermaßen geltender Tarif über jeden Verdacht erhaben, von Neid oder ideologisch motivierter Willkür bestimmt zu sein.

Immerhin sollte bei der aktuellen Debatte nicht vergessen werden, dass die zweite große Massensteuer, die „Mehrwertsteuer“ (eine Konsum- oder Verbrauchssteuer), wie auch alle übrigen Steuerarten (etwa die Kapitalertragsteuer, die Körperschaftssteuer, die Mineralöl- oder die Tabaksteuer) keinen progressiven Tarif kennen. Weshalb also wird von den Sozialisten in allen Parteien fortwährend so getan, als ob allein die Progression bei einer einzigen Steuerart dazu geeignet wäre, kollektive Gerechtigkeit auf Erden herzustellen? Logik wird zur Begründung purer fiskalischer Willkür jedenfalls nicht bemüht.

Eine weitere Überlegung betrifft die Geldinflation, die der kalten Progression zugrundliegt. Merke: ohne Inflation keine kalte Progression. Wer aber produziert die derzeit kräftig steigende Inflation? Richtig – die Zentralbanken, die seit Jahr und Tag auf Geheiß der hohen Politik hemmungslos Geld (und Kredit) schaffen, dem keinerlei Realwert gegenübersteht, wodurch die Kaufkraft je Geldeinheit laufend reduziert wird. Auf breiter Front steigende Warenpreise sind daher allemal die Folge einer gesteigerten Geldproduktion. Ohne Geldmengenwachstum kann es unter sonst gleichen Bedingungen niemals zu einer Preisinflation kommen.

Ob es ein Zufall ist, dass sich auch die Forderung nach Schaffung staatlich kontrollierter Nationalbankmonopole erstmals im weiter oben schon einmal zitierten „Kommunistischen Manifest“ findet? Wohl kaum. Denn auch die Idee staatlich kontrollierter und gesteuerter Geldproduktion dient letztlich der Enteignung und – damit eng verbunden – der langfristig vollständigen Entrechtung der Bürger. Wie sich in unserer Zeit eines negativen Realzinses, der private Geldvermögensverluste nach sich zieht zeigt, führt das Treiben der staatlichen Geldmonopolisten prompt zum politisch gewünschten Ergebnis, indem es einerseits private Ersparnisse zum Fiskus umverteilt und andererseits immer mehr Bürger direkt von staatlichen Zuwendungen abhängig und damit leichter lenkbar macht.

Der Grund für das Beharren der quer durch alle Parteien reichenden Umverteilungsfraktion auf die ausschließliche Entlastung kleiner Einkommen dürfte indes nicht ausschließlich ideologisch, nämlich durch den vermeintlich immerwährend notwendigen Kampf gegen den bourgeoisen Klassenfeind motiviert sein, sondern sich auch aus der Biographie ihrer Funktionäre und Mandatare erklären lassen. Schließlich hat ja kaum einer von ihnen je Zeit außerhalb geschützter Werkstätten verbracht und mit Arbeit unter Wettbewerbsbedingungen seine Zeit verschwendet. Wäre es anders, wüssten sie, dass auf der freien Wildbahn des Marktes niemandem Einkommen einfach nachgeschmissen werden – schon gar keine hohen.

Hohe Bezüge sind hier – anders als im Dunstkreis von Staat, Zwangsinteressenvertretungen, Gewerkschaften und anderen Sumpfbiotopen dieses Zuschnitts, mit beinharten Leistungsforderungen verbunden, die sie selbst niemals kennengelernt haben. Aus ihrer Erfahrung des leistungsfreien Bezuges beachtlicher Einkommen resultieren – in diesen Fällen berechtigt –mit Nivellierungstendenzen geschwängerte Phantasien. Die Idee, Einkommensgleichheit mittels brutaler Progressivsteuern herstellen zu wollen, liegt für Bezieher gegenleistungsfreier Einkommen daher nahe.

Wer indes jemals die raue Welt außerhalb geschützter Werkstätten erlebt hat, wird nicht verstehen, weshalb diejenigen überproportional belastet werden sollen, die am meisten Verantwortung tragen und der stärksten Arbeitsbelastung unterliegen – und das sind nun einmal weder Reinigungskräfte noch Friseurinnen, sondern die vielgeschmähten „Besserverdiener“, die meist in Führungspositionen anzutreffen sind.

Es ist an der Zeit, sich klarzumachen, dass in einer grenzenlos gewordenen Welt die attraktivsten Firmenstandorte nicht zuletzt durch das Steuerwesen bestimmt werden. Es ist an der Zeit anzuerkennen, dass Leistung sich auszahlen muss und nicht durch abschreckende Steuertarife davon abgehalten werden darf, hierzulande – und nicht in der Schweiz, in Tschechien, der Slowakei oder gleich in Übersee – erbracht zu werden. Aber versuchen Sie einmal, das einem in der verstaatlichten Industrie sozialisierten Stalinisten zu vermitteln…!

Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.

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