Betrachtet man die zur Zeit – im Vorfeld des Jubiläumsgipfels zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge (EWG- und EAG-Vertrag) am 25. März 2017 in Rom – erstellten Modelle für eine erfolgversprechende „Zukunft der Europäischen Union“[1], verblüfft zunächst die unglaubliche Vielfalt derselben. Einige davon sind durchaus pragmatisch konzipiert, andere wiederum ausgesprochen visionär ausgerichtet. Auch stammen diese Vorschläge nicht nur von den Organen der EU selbst, sondern wurden auch von nationalen Regierungen, Staatengruppen und Think Tanks erstellt. Das, was sie aber gemeinsam haben, ist ihre ungeheure konzeptionelle Komplexität, die sie für den „normalen Leser“ kaum mehr verständlich machen.
Seien es die vom Europäischen Parlament am 16. Februar 2017 verabschiedeten drei (nicht-legislativen) Entschließungen[2] mit ihren vielfältigen Vorschlägen zur Ausschöpfung des Potentials des Vertrags von Lissabon beziehungsweise der Anpassung der institutionellen Strukturen der Union zur Bewältigung der aktuellen Krisenlagen, oder auch die fünf Szenarien des von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 1. März 2017 präsentierten „Weissbuchs zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien“[3] der Kommission: Sie alle sind ohne grundlegende Vorkenntnisse des Rechts und der Politik der Union weder allgemein verständlich, noch konkret nachvollziehbar. Das gilt auch für das Szenario 4: Weniger, aber effizienter des Weissbuchs, das offensichtlich vom österreichischen Außenminister bevorzugt wird.[4]
Ebenso verhält es sich mit den von Mitgliedern der österreichischen Bundesregierung ausgearbeiteten Modellen zur Reform der EU, wobei die Bundesregierung vor allem bereits den zukünftigen österreichischen EU-Vorsitz im Auge hat, der im Juli 2018 beginnen und sechs Monate lang andauern wird. Um diesbezüglich die Themenführerschaft nicht aus der Hand zu geben und die Programmgestaltung während des Vorsitzes entsprechend beeinflussen zu können, versuchen sowohl ÖVP als auch SPÖ eigene Zukunftsprogramme zu erarbeiten.
So hat Außen-, Integrations- und Europaminister Sebastian Kurz seinen Beamten den Auftrag erteilt, bis April einen Katalog an Vorschlägen an die Bundesregierung für eine EU-Reform („Kurswechsel für Europa“) zu erarbeiten, der auch heikle Themen wie z.B. die Migrations- und Schuldenkrise umfassen soll. Im Gegenzug hat Bundeskanzler Christian Kern den ehemaligen Abgeordneten zum EU-Parlament und nunmehrigen Verkehrsminister Jörg Leichtfried damit beauftragt, gemeinsam mit Alt-Bundeskanzler Franz Vranitzky ein Europa-Strategiepapier zu erarbeiten, das intern unter dem Codenamen „Plan E“ firmiert – in Anlehnung an Kerns innenpolitischen „Plan A“.
Da die österreichische Öffentlichkeit in den nunmehr über zwanzig Jahren der Mitgliedschaft Österreichs in der EU[5] von der öffentlichen Hand mit entsprechenden Information über den konkreten Fortgang der Integration – um es dezent auszudrücken – nicht gerade verwöhnt wurde, hat sich ein „informationelles Vakuum“ gebildet, das unbedingt mit gezielten Informationen über die Union aufgefüllt werden muss. Dass es sich dabei aber nicht um lehrbuchartig strukturierte Informationen für die interessierte Öffentlichkeit handeln kann, ist offenkundig. Die beste Möglichkeit, in der Öffentlichkeit ein differenziertes Verständnis von der Rechtsnatur, den Kompetenzen und Tätigkeiten der EU herzustellen, ist eine Darstellung ihrer Rechtssetzungsaktivitäten auf der verbandlichen Ebene und deren Einwirkung in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.
Als „dienstältester“ Europarechtler in Österreich[6] war ich in meiner langen beruflichen Tätigkeit innerhalb und außerhalb der Universität stets bemüht, diesen Herausforderungen gerecht zu werden. In vielen hunderten europarechtlichen und -politischen Vorträgen und Beiträgen in Print- und Online-Medien habe ich immer wieder versucht, die Hörerschaft auf eine differenzierte Betrachtung der EU einzustimmen und sie von vorgefassten Meinungen und Vorurteilen – seien sie nun „EU-freundlich“ oder „EU-feindlich“ – abzubringen. Ebenso war ich auch bemüht, bei meinem Publikum Indifferenz und Gleichgültigkeit der EU gegenüber abzubauen, in dem ich nachzuweisen versuchte, in wie viele Bereiche der täglichen Lebensführung das Recht der EU bereits reglementierend eingreift und daher entsprechend zur Kenntnis genommen werden muss.
Entpflichtet von den administrativen Mühen des von mir geleiteten Instituts für Völkerrecht und Europarecht machte ich mich nach meiner Emeritierung sofort daran, meine diesbezüglich in Zeitungen und Online-Medien erschienenen Artikel über wichtige Vorgänge in der EU zusammenzustellen und in einer Sammelschrift herauszugeben. Dementsprechend konnte ich bereits 2010 einen ersten Sammelband vorlegen,[7] der aber nur einen Teil meiner Beiträge umfasste, sodass ich mich veranlasst sah, 2014 einen weiteren Band[8] nachzuliefern. Anfang 2017 gelang es mir schließlich, einen dritten Band[9] herauszugeben und damit dieses ambitionierte Unterfangen zu einer veritablen „Trilogie“ auszuweiten. Die „Trilogie“ umfasst nunmehr insgesamt 430 Artikel mit knapp 2.000 Seiten und deckt einen Zeitraum von elf Jahren (2005 bis 2016) ab, der in der 60-jährigen Geschichte der europäischen Integration zweifellos der wichtigste war.
Mit dem „Überschwappen“ der amerikanischen Immobilienkrise 2007/2008 auf Europa begann die Finanzkrise in der EU, deren Auswirkungen nach wie vor sehr nachteilig zu bemerken sind und auch zu einer Reihe kollateraler Krisenlagen Anlass gegeben haben.[10] Zur Bewältigung dieser Krisen wurde eine Reihe von Lösungsansätzen entwickelt, die aber neuerdings von einem anderen Trend überlagert werden, nämlich der Darstellung der verschiedensten Modelle zur erfolgversprechenden Ausgestaltung der „Zukunft der EU“. Für deren Verständnis und Nachvollziehbarkeit eignet sich die „Trilogie“ aufgrund ihrer Informationsfülle in ganz besonderem Maße.
DDDr. Waldemar Hummer ist emeritierter Univ.-Prof. am Institut für Europa- und Völkerrecht der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.
Fußnoten:
[1] Siehe dazu Hummer, W. Von der Krisenbewältigung zur Bestandssicherung der Europäischen Union. Die aktuellen Szenarien zur „Zukunft der Union“, in: EU-Infothek vom 7. März 2017.
[2] P8_TA(2017)0048; P8_TA(2017)0049; P8_TA(2017)0050.
[3] http://ec.europa.eu/germany/news/weissbuch_zukunft_eu27_en
[4] Interviewaussage von BM Kurz am 6. März 2017 im ORF ZIB 2 um 22.00 Uhr.
[5] Vgl. Hummer, W. Österreichs Bemühungen um eine Teilnahme an der europäischen Integration von 1948 bis 2015. Eine neutralitäts- und verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme, in: WiPolBl 2/2015, S. 265 ff.
[6] Siehe dazu Hummer, W. Die österreichische Europarechtslehre und ihre Vertreter, in: Hummer, W. (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende (2004), S. 404 ff.
[7] Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen. Die EU in 240 Bildern, Springer Verlag Wien/New York (2010), 590 Seiten.
[8] Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen. Die EU in 150 Glossen, Bd. 2, Verlag Österreich Wien (2014), 842 Seiten.
[9] Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen. Die EU in 40 Artikeln, Bd. 3, Verlag Österreich Wien (2017), 532 Seiten.
[10] Hummer, W. Die Europäische Union – ein Sanierungsfall?, in: Halper, D. - Kammel, A. (Hrsg.), Quergedacht. Werner Fasslabend zum 70. Geburtstag (2014), S. 367 ff.