Licht auf ein düsteres Kapitel der Zeitgeschichte

Geschichte bedarf bisweilen der Revision. Revision heißt, sie aufs Neue in den Blick zu nehmen. Erstmals aufgefundene oder unterbelichtet gebliebene, mitunter auch bisher gänzlich unbeachtete oder dem freien Zugang entzogene Dokumente zeitigen meist erhellende Einblicke und nicht selten ertragreiche Befunde. Wobei die akribische Auswertung und sorgfältige Analyse von ans Licht geholten Fakten jene „Erkenntnisse“ grundlegend zu erschüttern vermögen, worauf die bis dato für sakrosankt erachteten, historiographisch festgeschriebenen wie massenmedial verbreiteten „Wahrheiten“ und/oder Meinungen respektive „Überzeugungen“ beruhten.

Eine derart „revisionistische“ Umschreibung zeitgeschichtlicher Gewissheiten ist nunmehr aufgrund der neuerlichen Inaugenscheinnahme des an Spannungen reichsten Kapitels der jüngeren österreichisch-italienischen Beziehungen zwingend geboten. Im Allgemeinen ist dieses Kapitel vom Südtirol-Konflikt sowie vom Freiheitskampf mutiger Idealisten und im Besonderen von den sogenannten „Bombenjahren“ geprägt gewesen. Ein österreichischer Militärhistoriker, der sich wie niemand zuvor intensiv mit den brisantesten Akten seines Landes über die Geschehnissen der 1960er Jahre befasste, legte dazu soeben eine beeindruckende, großformatige Publikation von nahezu 800 Seiten vor, worin er manches zuvor für sicher, weil „wahr“ Gehaltene ins rechte Licht rückt und damit vom Kopf auf die Füße stellt.

Brisante Akten

Hubert Speckners Buch „Von der ,Feuernacht‘ zur ,Porzescharte‘. Das ,Südtirolproblem‘ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten“ (Wien; Verlag Gra&Wis; 2016; ISBN 978-3-902455-23-9; 768 S.; zahlreiche Abb., Buch bei Amazon) ist Ergebnis und Ertrag disziplinierter langjähriger, umsichtiger Studien im Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik. Darüber hinaus erstrecken sie sich auf die – der breiteren Öffentlichkeit nicht zugänglichen – Bestände der Staatspolizei (StaPo) und der Justiz sowie auf einschlägige Dokumentationen des Entschärfungsdienstes des Innenministeriums; sie erfassen schließlich auch „streng geheime“ Bestände des Verteidigungsministeriums über den Einsatz des Bundesheeres an der Grenze zu Italien anno 1967.

Daraus ergibt sich für den promovierten, an der Landesverteidigungsakademie in Wien tätigen Offizier der Befund: Der Truppeneinsatz bildete sozusagen den Höhepunkt der „verstärkten Grenzüberwachung“ der Sicherheitskräfte der Republik Österreich nach der „Feuernacht“ (11./12. Juni 1961) in Südtirol bildete, in der Aktivisten des „Befreiungssauschusses Südtirol“ (BAS) in einer konzertierten Aktion mittels Sprengung von ungefähr 40 Hochspannungsmasten die Energieversorgung im Bozner Becken zeitweise lahmgelegt und damit der Industrie Norditaliens partiell Schaden zugefügt hatten.

Von 1961 bis zum Sommer 1967, dem absoluten „Höhepunkt“ der Südtirol-Problematik nach dem Zweiten Weltkrieg, geriet Österreich unter wachsenden Druck Italiens. Dies führte nach dem „Vorfall auf der Porzescharte“, zufolge dessen gemäß amtlichen italienischen Verlautbarungen am 25. Juni 1967 vier italienische Soldaten den Tod fanden, einerseits zum Veto Italiens gegen die damaligen EWG-Assoziierungsverhandlungen Österreichs, andererseits zur „verstärkten Grenzüberwachung“ durch sein Militär. Dem Geschehen rund um den Vorfall vom Juni 1967 hatte Speckner bereits sein aufsehenerregendes, 2013 ebenfalls im Verlag Gra&Wis zu Wien erschienenes Buch „Zwischen Porze und Roßkarspitz…“ gewidmet.

Anschließend nahm er sich aller vorhandenen sicherheitsdienstlichen Akten zu Südtirol an, denen die maßgebliche zeitgeschichtliche Forschung – entgegen dem weithin erweckten Eindruck, wonach „eigentlich alles gesagt“ sei – ein nur äußerst geringes Interesse entgegengebracht hatte. Daher seien von den akribisch aufbereiteten 48 „aktenkundig“ gewordenen Vorfällen einige exemplarisch vorgestellt, bei denen die aus den Inhalten der jeweiligen österreichischen Dokumente gewonnenen Erkenntnisse massiv von den jeweiligen offiziellen italienischen Darstellungen abweichen.

Vertuschung des wahren Sachverhalts

So hatte Italien mittels einer „diplomatischen Note“ unverzüglich die angebliche „Untätigkeit der österreichischen Sicherheitsbehörden gegen die Terroristen, die von Österreich aus operieren“ angeprangert, als es in der Nacht vom 12. auf den 13. September 1965 am Reschenpass angeblich zu einem „Angriff von BAS-Aktivisten gegen eine Alpini-Kaserne“ gekommen sei. Indes ergaben die Nachforschungen der StaPo, dass es sich lediglich um eine in der „Manuela Bar“ in Reschen unter angetrunkenen italienischen Soldaten ausgebrochene Streiterei wegen anwesender deutscher Urlauberinnen gehandelt hatte. Einige Soldaten verließen demnach die Bar, holten in der Kaserne ihre Waffen und eröffneten das Feuer auf die im Lokal Verbliebenen. Dagegen waren laut StaPo nirgendwo Einschläge oder Schäden durch angeblich von BAS-Leuten geworfene Handgranaten zu registrieren gewesen. Stattdessen hatte der ebenfalls anwesende und ebenfalls alkoholisierte Kasernenkommandant am nächsten Morgen einen „Terroristenüberfall“ gemeldet, um den wahren Sachverhalt zu vertuschen. Und Italien überzog Österreich mit Anschuldigungen. Die Schüsse am Reschenpass wurden fortan und werden bis heute wahrheitswidrig als „BAS-Anschlag“ dargestellt.

Ähnlich verhält es sich hinsichtlich eines Vorfalls, der sich am 23. Mai 1966 am Pfitscherjoch - am Grenzverlauf zwischen Südtiroler Pfitschtal und Nordtiroler Zillertal – zugetragen hat. Laut offizieller italienischer Darstellung löste Bruno Bolognesi, Angehöriger der Guardia di Finanza (Finanzwache), beim Betreten der Schutzhütte nahe der Grenze eine 50-kg-Sprengladung aus, die ihn das Leben gekostet habe. Italien verdächtigte sofort die „Pusterer“, vier BAS-Aktivisten aus dem Ahrntal, und führte ohne Beiziehung österreichischer Sicherheitsbehörden im Zillertal Erhebungen durch. Allerdings existiert eine vom Bozner Kommando der Guardia di Finanza zu dem Vorfall angelegte Bilddokumentation, derer die österreichischen Behörden habhaft wurden. Laut unabhängig voneinander vorgenommenen Expertisen von Spreng(stoff)sachverständigen belegen die Aufnahmen – ebenso wie das Foto, welches den toten Finanzer zeigt – allerdings keinesfalls die Explosion von 50 kg Sprengstoff, sondern vielmehr eine Gasexplosion in der Schutzhütte.

Doch nach wie vor beschuldigt Italien besagte BAS-Aktivisten aus dem Ahrntal, weshalb Rom deren Rehabilitierung stets strikt ablehnt(e). Wohingegen die „Strafverfolgung“ für jene italienischen Neofaschisten ans Lächerliche grenzt, die für zweifelsfrei erwiesene Sprengstoffanschläge auf österreichische Einrichtungen - wie am 01. Oktober 1961 auf das Andreas-Hofer-Denkmal in Innsbruck oder am 18. August 1962 auf das „Russendenkmal“ in Wien, respektive den für einen österreichischen Polizisten tödlichen Anschlag vom 23. September 1963 am Ebensee - verantwortlich waren.

Ein „Attentat“, das keines war

Der spektakulärste und für die damaligen österreichisch-italienischen Beziehungen folgenschwerste Vorfall trug sich am 25./26. Juni 1967 auf der Porzescharte, am Grenzverlauf zwischen Osttirol und der italienischen Provinz Belluno, zu. Die vorliegenden österreichischen Akten beweisen zweifelsfrei, dass die offizielle italienische Version, wonach die angeblich von drei „Terroristi“ aus Österreich begangene Tat – Sprengung eines Strommastes und Verlegen einer Sprengfalle, bei deren Detonation vier Soldaten getötet und einer schwer verletzt worden sein sollen – so nicht stimmen kann. Darüber hinaus ging aus mehreren Geländebegehungen und Feldstudien sowie aus der Expertise ausgewiesener Sachverständiger die sprengtechnische Unmöglichkeit dieser bis heute offiziellen Darstellung hervor, was Italien bis zur Stunde ignoriert.

Für die Experten gilt es als gesichert, dass sich dort mindestens drei Explosionen ereignet haben müssen. Und es zeigt(e) sich mit einiger Deutlichkeit, dass Angehörige der italienischen „Stay behind“-Organisation „Gladio“ im Zuge der von staatsstreichbeseelten Militärgeheimdienstoffizieren verfolgten „Strategie der Spannungen“ als wahre Verursacher der Geschehnisse gelten müssen, deren Machenschaften in Italien erst zu Beginn der 1990er Jahre publik werden sollten. Was allerdings für die 1971 in Florenz zu Unrecht - weil für eine nicht begangene Tat – und darüber hinaus wider die Europäische Menschenrechtskonvention – weil in Abwesenheit – zu lebenslanger Haft verurteilten drei Österreicher, von denen noch zwei am Leben sind, bis zur Stunde folgenlos geblieben ist.

Instrumentalisierte, gezielte Anschuldigungen

Aus dem, was Hubert Speckner sorgsam zusammengetragen, gründlich ausgewertet und im Zusammenwirken mit Sachverständigen aufbereitet sowie durch schlüssige Analysen untermauert hat, lassen sich wichtige Erkenntnisse gewinnen und resümierend einige revisionistische Schlüsse ziehen. So fanden Aktionen des BAS ungefähr zeitgleich eine gewisse Parallelität durch italienische Neofaschisten. Umgehend instrumentalisierte Italien vor allem jene Vorfälle mit bis heute nicht einwandfrei geklärten Hintergründen und nutzte sie politisch wie medial gegen Österreich.

Hatte Italien nach dem Zweiten Weltkrieg alles versucht, um die Südtiroler – mit Hinweis auf die zwischen Hitler und Mussolini 1939 vereinbarte, aber infolge Kriegsverlaufs verringerte und schließlich zum Stillstand gekommene „Option“ – zu Nazis abzustempeln, so stellt(e) es seit Ende der 1950er Jahre alle BAS-Aktivisten in die rechte Ecke und politisch wie publizistisch unter Generalverdacht des N(eon)azismus. Was in politischen Milieus Österreichs und Deutschlands von ganz links bis zur Mitte verfing und bis heute anhält. Und womit den Aktivisten, die aus Verzweiflung ob der kolonialistischen Unterwerfungspolitik - auch des „demokratischen“ Nachkriegsitaliens - handelten, bis zur Stunde Unrecht geschieht.

Der BAS-Grundsatz, wonach „bei Anschlägen keine Menschen zu Schaden kommen dürfen“, wurde trotz Eskalation der Gewalt zwischen 1961 („Feuernacht“) und 1969 (mehrheitliche Annahme des Südtirol-„Pakets“ durch die Südtiroler Volkspartei) weitestgehend eingehalten. Der Tod nahezu aller während dieser Jahre gewaltsam ums Leben gekommenen Personen ist nicht dem BAS als solchem anzulasten, wie dies fälschlicherweise von der italienischen Justiz und diversen Medien wahrheitswidrig festgestellt sowie verbreitet wurde und noch heute behauptet wird.

Stattdessen handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Unfälle – so im Falle des Todes von Bruno Bolognesi in der Pfitscherjoch-Hütte am 23.06.1966 sowie von Herbert Volgger, Martino Cossu und Franco Petrucci am 09.09.1966 auf der Steinalm-Hütte. Oder um einen Unfall in Verbindung mit einer Geheimdienstaktion - so im Falle des Todes von Olivo Dordi, Francesco Gentile, Mario Di Lecce und Armando Piva am 25./26.06.1967 auf der Porzescharte. Oder um Geheimdienstaktivitäten wie im Falle des Todes von Filippo Foti und Edoardo Martini im „Alpenexpress“ zu Trient am 30.09.1967. In anderen ungeklärten Todesfällen – wie jenem des Vittorio Tiralongo (03.09.1964) sowie dem des Palmero Ariu und des Luigi De Gennaro (26.08.1965), schließlich auch jenem des Salvatore Gabitta und Guiseppe D´Ignoti (24.08.1966) - sind die Strafverfahren ohne Anklageerhebung infolge nicht ausreichender Erkenntnisse ohnedies eingestellt worden.

Verdrehung der Tatsachen

Für einige im Zusammenhang mit dem Südtirol-Konflikt zwischen 1961 und 1963 in Österreich geplante und/oder ausgeführte Anschläge ist dem BAS ursprünglich die Täterschaft zugeschrieben worden. Es waren dies die Explosion einer am Denkmal der Republik in Wien angebrachten Sprengladung (30.04.1961); die Sprengung des Andreas-Hofer-Denkmals in Innsbruck (01.10.1961); Schüsse auf die italienische Botschaft in Wien (08.10.1961), Anschlagsversuche am Wiener Heldenplatz (27.12.1961) und auf das sowjetische Ehrenmal („Russendenkmal“) in Wien (18.08.1962) sowie der für den Gendarmen Kurt Gruber todbringende Sprengstoffanschlag in Ebensee (23.09.1963), bei dem es zudem zwei Schwer- und neun Leichtverletzte gab.

Fälschlicherweise. Denn die Taten waren von italienischen Neofaschisten bzw. von österreichischen Rechtsextremisten, die nicht dem BAS angehörten oder mit ihm in Verbindung standen, begangen worden. Ein Zusammenhang zwischen den Anschlägen und dem BAS wurde wahrheitswidrig von ideologisierten Personen sowie von (bewusst) falsch informierten/informierenden Medien in Österreich und nicht zuletzt von italienischen Stellen zur Gänze behauptet, um den BAS zu diskreditieren.

Ranghohe Diskutanten verleihen der Studie den Rang des offiziellen Standpunktes Wiens

Der Südtiroler Freiheitskampf der 1960er Jahre war letztendlich erfolgreich und hat entscheidend zur politischen Lösung des Konflikts („Paket“) beigetragen. Dies ist unlängst während einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion in Wien einmütig und eindrücklich bestätigt worden, in deren Rahmen Speckners voluminöse Studie erstmals öffentlich vorgestellt wurde. Zugegen waren neben dem vormaligen Außenminister Peter Jankowitsch (am Podium), dem ehemaligen Verteidigungsminister Helmut Krünes und dem einstigen Justizminister Harald Ofner ranghohe Vertreter des Staatsarchivs, der Präsidentschaftskanzlei sowie die Spitzen des Bundesheers und nicht zuletzt einige noch lebende Freiheitskämpfer. Zurecht schrieben daher die „Salzburger Nachrichten“, die Anwesenheit höchster Repräsentanten der Republik bei der öffentlichen Präsentation dieser die jüngere Zeitgeschichtsschreibung zuhauf korrigierenden Studie des Militärhistorikers verliehen ihr den Status des offiziellen Standpunkts Österreichs.

Autor Speckner unterstreicht, dass zum „Höhepunkt“ des Aufbegehrens der BAS-Aktivisten etwa 15.000 Angehörige italienische Soldaten zusätzlich in Südtirol stationiert wurden und somit dort die Sicherheitskräfte auf insgesamt etwa 40.000 Mann aufgestockt worden waren. Dennoch war deren Einsatz letztlich praktisch wirkungslos. Aufgrund dieses Umstands hatte der Ruf der italienischen Streitkräfte stark gelitten.

Wegen dieses Gesichtsverlusts und der enorm hohen zusätzlichen Kosten hätten in Rom letztendlich die „Tauben“ über die „Falken“ die Oberhand gewonnen, worauf auch zurückgeführt werden könne, dass unter Aldo Moro eine politische Lösung, das „Südtirol-Paket“, erreicht werden konnte. Damit und untermauert durch die übereinstimmenden Aussagen der Diskutanten während der Buchpräsentation dürfte auch die von dem Innsbrucker Zeitgeschichtler Rolf Steininger aufgestellte und wider alle Einwände von Zeitzeugen vertretene These, dass der Südtiroler Freiheitskampf kontraproduktiv gewesen sei - „Trotz und nicht wegen der Attentate wurde die 19er Kommission eingesetzt“ - als widerlegt gelten.

Die moralische Verpflichtung Roms

Auf italienischen Druck hin und aus angeblicher Staatsräson hatte Wien damals wider besseres Wissen in vielen die Südtirol-Frage bestimmenden Angelegenheiten den römischen Forderungen nachgegeben. Und zum Nachteil von Südtirol-Aktivisten war seinerzeit von beteiligten österreichischen Stellen sozusagen aus vorauseilenden Gehorsam, mitunter aber auch aus bestimmten Interessenlagen, Recht gebeugt worden. Es wäre daher nur recht und billig, dass Österreich alles unternähme, um auf die völlige Rehabilitation der in Italien zu Unrecht Verurteilten und in aller Öffentlichkeit Stigmatisierten hinzuwirken. Wien sollte zudem offensiv gegenüber Rom auftreten, damit Italien seine diese Zeit betreffenden Archivalien freigibt und seiner moralischen Verpflichtung nachkommt, der Forschung die Möglichkeit zur Revision dieses von ihm unsäglich geklitterten Kapitels auch seiner eigenen politischen Geschichte zu gewähren. Schuldig wäre es dies sowohl den fremden wie den eigenen Opfern.

Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

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