(Merk)würdig gedenken

Im Kontext des 60. Jahrestages der Ungarnrevolution hat Paul Lendvai jüngst über einen „merkwürdigen Gedenktag“ in Budapest geschrieben. Er hat dabei die Art und Weise der Veranstaltungen sowie die Rede von Ministerpräsident Viktor Orbán reichlich kritisiert. Zugegeben: Man kann derzeit – schon wegen der zeitlichen Nähe – kaum auf die Ereignisse von 1956 zurückblicken, ohne sich auch mit deren aktuellen politischen Zusammenhängen beschäftigen zu müssen. Wir sollten aber eines klarstellen: Verzerrte, oberflächliche – eventuell politisch-ideologisch motivierte – Parallelen zwischen der damaligen Flucht der Ungarn und der jetzigen Migrationswelle sind völlig irreführend.

Die Flüchtlinge von 1956 sind aus einem Nachbarland im Kriegszustand gekommen. Sie haben die großzügige Hilfe der Österreicher mit Dank empfangen, aber die hiesigen Regeln eingehalten. Und die etwa 20.000 Ungarn, die längerfristig in Österreich geblieben sind, haben alles getan, sich baldmöglichst in ihrer neuen Heimat zu integrieren. Ob sich das mit der jetzigen Situation vergleichen lässt, kann jeder selbst beurteilen.

Was das „merkwürdige Gedenken“ betrifft: Die Lehren von 1956 für heute werden noch stark diskutiert – ebenso wie bei anderen historischen Ereignissen der letzten Jahrzehnte. Da scheint es umso merkwürdiger, wenn Herr Professor Lendvai „mit seinem durchaus kurvigen Lebenslauf“, jedoch offenbar im Besitz vermuteter Deutungshoheit (be)urteilt, wer die würdigen Vertreter der ungarischen Nation sind, und welche Folgerungen der ungarische Ministerpräsident aus den damaligen Ereignissen ziehen sollte.

Als merkwürdig – oder eher fragwürdig – sollte man auch bezeichnen, wenn in einem ’56-er Gedenkprogramm auf ORF III Lendvais neuestes Buch über Viktor Orbán präsentiert wird. Oder wenn er im Rahmen des „ORF-Schwerpunktes zum 60. Jahrestag des Ungarnaufstandes“ stundenlang die Persönlichkeit des ungarischen Ministerpräsidenten und das vermutete „Gift des Nationalismus“ in Ungarn analysiert.

Wenn wir schon bei diesem ORF-Schwerpunkt sind, sollte ich auch ein Beispiel erwähnen, das nicht einmal als fragwürdig bezeichnet werden kann. Wenn „Hörbilder“, wie bei der Ö1-Sendung „Grenzen – Ungarn 1956, 1989 und 2016“, drei verschiedene Vorgänge ohne Differenzierung zusammenmischt, kann man das zwar Collage nennen und dadurch dramatische Stimmungen erwecken. So werden aber die historischen Rahmenbedingungen sowie die oben erwähnten schwerwiegenden Unterschiede zwischen den einzelnen Ereignissen völlig außer Acht gelassen. Damit werden sowohl die damaligen als auch die jetzigen Geschehnisse falsch und verzerrt dargestellt.

Ich befürchte, solche Beiträge helfen keinesfalls weiter, wenn wir die für unsere Zeit geltende Botschaft von 1956 erkennen wollen. Umso mehr schaden sie dem Gedächtnis der Revolution. Im Sinne einer besonnenen Vergangenheitsbewältigung und in der Absicht eines würdigen Gedenkens möchte ich sagen: Wir neigen den Kopf vor den Helden des Ungarnaufstandes. Wir danken vom Herzen allen, die damals in Österreich den ungarischen Flüchtlingen mit Tat und Kraft geholfen haben – und auch denjenigen, die auch jetzt im gleichen Sinne für die Freundschaft unserer Länder auftreten.

János Perényi ist ungarischer Botschafter in Wien. Dieser Text war vom „Standard“ abgelehnt worden.

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