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Erkennt die österreichische Gerichtsbarkeit psychiatrische Erkrankungen als medizinische Erkrankungen an?

In fachpsychiatrischen Gutachten wird man häufig mit der Frage konfrontiert, ob psychiatrische Erkrankungen medizinische Erkrankungen seien und dabei wird zum Teil von den Gerichten die Meinung vertreten, es sei in der Psychiatrie entweder nicht oder schwer möglich, etwas zu messen und dass deswegen die dabei diagnostizierten Erkrankungen nicht als medizinische Krankheit verifizierbar seien. Dem gegenüber steht jedoch die hohe Morbidität der Bevölkerung an psychiatrischen Erkrankungen, wobei die Zahlen bis zu 30 Prozent gehen (Wittchen et al 2011). Heißt dies, dass diese Erkrankungen nicht existieren, und daher logischerweise auch nicht von den Krankenversicherungen bezahlt werden sollten?

Der Umstand, dass die psychiatrischen Erkrankungen des öfteren von österreichischen Gerichten nicht als medizinische Erkrankungen angesehen werden, ist durch das Urteil des Landesgerichts Graz der Öffentlichkeit breit demonstriert worden, als der Richter durch ein Laiengericht abstimmen ließ, ob die Laien der Meinung seien, dass der Patient schuldfähig oder nicht schuldfähig sei. Der Richter wird mit folgender Formulierung in Medien zitiert: „Die Gutachter ziehen immer heran, was der Proband sagt, ohne zu hinterfragen. Wenn wir das im Strafrecht auch so machen würden, hätten wir 90 Prozent Freisprüche“. Damit setzt sich der Richter mit einem laienhaft-medizinischen Verstand einerseits über das psychiatrische Krankheitsbild hinweg und zum anderen bezeichnet er fachpsychiatrische Gutachter als unfähig.

In dem in Graz durchgeführten Prozess der Amokfahrt, bei der drei Opfer starben, 36 Personen teilweise schwer verletzt wurden und 711 Menschen das Betreuungszentrum der Krisenintervention aufsuchten, wurden drei psychiatrische Gutachten und ein psychologisches Gutachten eingeholt und mehrere behandelnde Ärzte als Zeugen geladen. Insgesamt wurden 8 Psychiater als Zeugen gehört. Bei den 7 Prozesstagen waren 8 Geschworene anwesend, die den Amokfahrer als eindeutig schuldig und als zurechnungsfähig befanden.

Bei diesem Prozess war es deutlich, dass die Schuldfähigkeit vom Gericht vorwiegend auf Grund einer medizinisch-laienhaften Einschätzung getroffen wurde. Während einerseits renommierte Psychiater aus Österreich und Deutschland das Krankheitsbild einer schizophrenen Erkrankung diagnostizierten, kamen ein vorwiegend neurologisch tätiger Kollege und eine forensische Psychologin zu dem Schluss, dass es sich dabei eher um eine Persönlichkeitsstörung handeln würde. Die Geschworenen wurden nun in dem Prozess dazu aufgefordert, über Diskretionsfähigkeit und Dispositionsfähigkeit abzustimmen, ein Umstand, der ein medizinisches Fachwissen erfordert.

Auf die Medizin umgelegt würde dies bedeuten, was Prof. Haller in einem Fernsehinterview treffend angegeben hat: Wenn im Lungenröntgen ein Rundherd zur Darstellung gebracht wird und ein Arzt eher auf eine Tuberkulose, der andere eher auf eine Krebserkrankung schließt, dass der Primararzt dann 8 unbeteiligte, mit Fachfragen nicht vertraute Personen befragt und sie zur Entscheidung dieser medizinischen Fachfrage abstimmen lassen würde.

Dass österreichische Gerichte psychiatrische Erkrankungen des öfteren nicht als medizinische Erkrankungen anerkennen, findet sich auch bei Patienten, die einen Suizid begehen. Da kommt zum Beispiel von Richtern die Aussage: „Suizid sei doch eher eine philosophische und keine medizinische Frage“. Dem gegenüber steht jedoch die reiche psychiatrische, auch Post-Mortem-Literatur, dass nahezu alle Suizidfälle mit schweren Depressionen (Ringel, 1953) im Zusammenhang stehen (Kasper et al, 1996, 2005), die auch funktionelle Veränderungen im Hirnstoffwechsel bewirken (Mann et al, 1986).

Das Gehirn des Menschen ist das komplizierteste Organ in unserem Körper und einfache Vergleiche mit der Organmedizin sind nicht in dem Sinne anzustellen, dass wir Biomarker hinsichtlich Diskretions- und Dispositionsfähigkeit haben oder haben werden, genauso wenig wie für schizophrene Erkrankungen oder depressive Erkrankungen. Dem gegenüber steht jedoch das reiche psychiatrische Fachwissen, das seit zumindest 200 Jahren in Lehrbüchern der Psychiatrie festgehalten und international durch Diagnosekriterien verankert ist. Eine Testpsychologie, wie sie z.B. durch vorwiegend forensische Psychologen angewandt wird, ohne die Kenntnis psychiatrischer Erkrankungen in deren verschiedenen Facetten führt dazu, dass krankheitsrelevante Inhalte, die nur durch die Exploration eines geschulten Psychiaters mit dem Patienten evident wird, nicht erfasst werden können.

Die österreichische Gerichtsbarkeit wäre gut beraten, psychiatrische Erkrankungen als medizinische Erkrankungen anzusehen. Und wenn die Gerichtsbarkeit nicht dieser Meinung ist, sollte der Gesetzgeber einen Grundsatzprozess anstrengen, um zu klären, ob die Kosten für eine psychiatrische Erkrankung von den Krankenkassen ersetzt werden sollen. Dieser Vergleich soll die Absurdität aufzeigen, mit der die österreichische Gerichtsbarkeit des öfteren, wie z.B. in dem Prozess in Graz mit einem medizinisch-laienhaften Verstand an Sachfragen herangeht, die psychiatrische Erkrankungen betreffen.

Referenzen:

  1. Wittchen HU, Jacobi F, Rehm J, Gustavsson A, Svensson M, Jönsson B, Olesen J, Allgulander C, Alonso J, Faravelli C, Fratiglioni L, Jennum P, Lieb R, Maercker A, van Os J, Preisig M, Salvador-Carulla L, Simon R, Steinhausen HC (2011) The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. Eur Neuropsychopharmacol. 2011 Sep;21(9):655-679.
  2. Kasper S, Schindler S, Neumeister A (1996) Risk of suicide in depression and its implication for psychopharmacological treatment. International Clinical Psychopharmacology 11: 71-79
  3. Kasper S, Kapfhammer HP, Kalousek M (Hrsg.) Aichhorn W, Butterfield-Meissl C, Dervic K, Fabisch J, Fartacek R, Frey R, Friedl EJ, Friedrich MH, Haushofer M, Kapitany T, Karwautz A, Kindler J, Klier C, Musalek M, Pezawas L, Saletu B, Schubert H, Stein C, Tölk A, Wancata J, Windhager E (2005) Suizidalität. State of the Art 2005. CliniCum psy Sonderausgabe November 2005
  4. Mann JJ, McBride PA, Stanley M (1986) Postmortem monoamine receptor and enzyme studies in suicide. Ann N Y Acad Sci 487:114-21
  5. Ringel E (1953) Der Selbstmord. Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung (Eine Untersuchung an 745 geretteten Selbstmördern). In: Hoff H, Pötzl O (Hrsg.): Wiener Beiträge zur Neurologie und Psychiatrie, Band III. Wien-Düsseldorf: Verlag für medizinische Wissenschaften Wilhelm Maudrich

O.Univ.Prof. Dr.med. Siegfried Kasper ist Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien, gerichtlich beeideter Sachverständiger für das Fach Psychiatrie mit langjähriger Erfahrung im Gutachtenwesen in Österreich und Deutschland.

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