Die überholte Gesamtschulforderung stammt aus ganz anderen Zeiten

Österreichs Schüler geht es in der Schule weit besser als ihren Altersgefährten in den meisten anderen Staaten. Österreichs Jugend bestätigt dies in beeindruckender Weise.

Die politische Forderung nach Einführung von Gesamtschulen stammt aus einer Zeit, in der

  • ein Reifeprüfungszeugnis ausschließlich über das Gymnasium erlangt werden konnte,
  • ein Reifeprüfungszeugnis den Zutritt zu einer sozial privilegierten Oberklasse eröffnete,
  • ein Studium, das nur nach erfolgreichem Abschluss eines Gymnasiums begonnen werden durfte, der Weg zur Königsklasse der Gesellschaft war, der nur einige wenige Prozent der Bevölkerung angehörten.

Ziel der Gesamtschule war es,

  1. möglichst vielen jungen Menschen zum Aufstieg in die gesellschaftliche Ober- und Königsklasse zu verhelfen und
  2. den Erfolg auf diesem Weg möglichst vom Bildungs- und Sozialniveau des Elternhauses zu entkoppeln.

Die OECD hat die Maturanten- und die Akademikerquote seit zwei Jahrzehnten zum bildungspolitischen „Maß aller Dinge“ hochstilisiert. Staaten, die im Sinne der OECD erfolgreich waren, haben die Maturantenquote auf 80 % und höher getrieben, haben eine Akademikerquote von über 50 % erreicht und sehen sich jetzt mit Massen junger Menschen konfrontiert, denen der Arbeitsmarkt keine ihren Bildungsabschlüssen entsprechenden Arbeitsplätze bieten kann. Eine horrend hohe Jugendarbeitslosigkeit, die in etlichen Staaten inzwischen auch für Jungakademiker gilt, ist seit vielen Jahren die brutale Lebenswirklichkeit von Millionen junger Menschen, denen man über eine gymnasiale Matura und ein daran anschließendes Studium den Weg nach oben bahnen wollte.

Österreich ist ebenso wie Deutschland diesen Weg nicht mitgegangen, sondern hat auf eine Vielfalt der Bildungswege und Bildungsabschlüsse gesetzt und bietet eine breite Palette berufsbildender Schulen, wie es sie nirgendwo sonst gibt. Die Vielfalt der Bildungsabschlüsse passt offensichtlich so gut zur Vielfalt der Berufsfelder, dass sich Österreich und Deutschland seit Jahren über die EU-weit niedrigste Jugendarbeitslosigkeit freuen dürfen. Die duale Bildung, die vor einem Jahrzehnt noch als Weg der Bildungsverlierer diffamiert wurde, ist im Rahmen des vielfältigen Bildungswesens ein wesentlicher Erfolgsfaktor, der von manchem in Österreich noch immer nicht als das verstanden wird. Immer mehr Staaten versuchen seit Jahren dieses Erfolgsmodell nachzubauen – meist mit wenig Erfolg, weil der Weg zur Matura in jenen Staaten als alternativlos in den Köpfen eingeprägt ist.

Auch in Österreich hat das im Zuge der schulpolitischen Diskussion erfolgte Hochstilisieren der Matura in den letzten Jahren zu einer deutlich geringeren Zahl von Menschen geführt, die eine duale Bildung beginnen. Deren Absolventen sind in den meisten Sparten gefragter denn je. Ihre beruflichen Aussichten sind inzwischen, was die Beschäftigungssituation, aber auch die Entlohnung anlangt, besser als die von Maturanten, teilweise auch schon besser als die von Jungakademikern.

Die Zielsetzungen, die die Gesamtschulbewegung vor einem halben Jahrhundert in Gang setzten, sind im Interesse der jungen Menschen angesichts der völlig veränderten Lebenswirklichkeit dringend zu hinterfragen und radikal zu ändern. Ein Festhalten an längst überholten Visionen ohne Rücksicht auf tatsächliche Konsequenzen ist in höchstem Maß unverantwortlich: Es raubt jungen Menschen persönliche Chancen und schädigt den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand.

Österreich gehört zu den Staaten mit den meisten erfolgreichen Abschlüssen der Sekundarstufe. Die internationalen Leistungsvergleiche (PIRLS und TIMSS bei den 10-Jährigen und PISA bei den 15-Jährigen) zeigen, dass Österreichs 10-Jährige nach der vierjährigen Gesamtschule Volksschule signifikante Rückstände aufweisen, die im Lauf der differenzierten Sekundarstufe I erheblich reduziert werden:

„A diversity of education programmes gives more chances to students to find the types of programmes that correspondto their needs, expectations and skills, and to continue education.“ (OECD)[1]

Between 2007-2010, Austria succeeded in reducing the average school drop-out rates more than in the other EU countries (despite starting from a lower average level) and reduced the rates for migrant children – while these rates increased in the EU. (OECD)[2]

Anteil der 20- bis 24-Jährigen, die noch keinen Sekundarstufe II-Abschluss geschafft haben (Stand 2014):[3]

Österreich:

10,4 %

Finnland:

13,7 %

EU 28-Mittelwert:

17,8 %

Italien:

20,1 %

„Reducing the number of early school leavers will save Europe large public and social costs and protect the individual from a high risk of poverty and social exclusion.“ (EU-Kommission)[4]

„For young individuals not wishing to continue their studies into tertiary education, vocational education potentially provides better prospects for their employability than general, more academically oriented upper secondary education.“ (EU-Kommission)[5]

„Young people with a vocationally oriented upper secondary education attainment are better prepared for their labour market integration than their counterparts with general upper secondary education.“ (EU-Kommission)[6]

„Die Aufgabe von Bildungsangeboten besteht darin, Menschen ihren Weg finden zu lassen, einen Weg, der zu ihnen passt. […] Nicht Reduzierung, sondern Vielfalt der Bildungsangebote ist die Lösung. (Julian Nida-Rümelin)[7]

Vocational education seems to improve the labour market performance of young individuals: in most of the countries, graduates from vocationally oriented programmes show higher employment rates than their non-VET counterparts, as well as lower unemployment and inactivity rates.“ (EU-Kommission)[8]

Länder ohne duale Berufsausbildung hätten zu viele akademisch Gebildete und zu wenige praktisch Ausgebildete und in der Folge eben signifikant höhere Arbeitslosenquoten: ‚Die Bildungselite erliegt der sozialen Illusion, dass eine höhere Bildung automatisch auch eine bessere berufliche Karriere mit sich zieht.‘“ (Rudolf Strahm, Schweizer Politiker (SP) und Ökonom)[9]

Good quality apprenticeships help young people to acquire the skills and key competences necessary to be successful on the labour market.“ (EU-Kommission)[10]

„Die Länder mit dualer Berufsbildung haben tatsächlich bessere Ergebnisse am Arbeitsmarkt. Mehr duale Berufsausbildung in einem Land führt zu weniger Jugendarbeitslosigkeit – auch in Österreich. Die Bundesländer mit vielen Lehranfängern im Alter von 15 bis 16 Jahren haben am wenigsten arbeitslose 20- bis 24-Jährige.“ (Thomas Mayr, Geschäftsführer des Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft)[11]

Positive effects on both employability and skills are found to be particularly strong in countries with well-developed traditions of VET and work-based learning, such as DE, AT and CZ.“ (EU-Kommission)[12]

„The apprenticeship system is often regarded as exemplary because it provides the skills needed by firms and combines on-the-job training and formal education, thus offering substantial initial work experience.“ (Stéphane Carcillo u. a.)[13]

„International research has emphasised dual systems of VET to be efficient and high-quality routes to skilled employment for young people not opting for higher education.“ (Christian Helms Jørgensen)[14]

„Die OECD verweigert sich seit Jahren, die Gleichwertigkeit der akademischen und beruflichen Bildung anzuerkennen. Wer als Industriemeister, Bilanzbuchhalter oder Fachwirt tätig ist, der muss sich nun wirklich nicht vor akademisch Gebildeten verstecken.“ (Eric Schweitzer, Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer)[15]

„Dass rund 20-25 % der Befragten aus Akademikerhaushalten sowie von Eltern mit Matura eine Lehre als ‚sehr interessant‘ und weitere rund 20 % als ‚überlegenswert‘ einstuften, ist bemerkenswert. Dies widerspricht gängigen Vorstellungen enger sozial konnotierter Bildungsaspirationen.“ (ibw)[16]

Die meisten EU-Staaten und -Regionen, die an PIRLS 2011 teilgenommen haben, hatten im Durchschnitt signifikant bessere Ergebnisse als Österreich: Finnland, Nordirland, Dänemark, Kroatien, Irland, England, die Niederlande, die Tschechische Republik, Schweden, Italien, Deutschland, Portugal und Ungarn.“ (Statistik Austria)[17]

10-Jährige, die in der Mathematik den „High International Benchmark“ oder den „Advanced International Benchmark“ erreichen (Stand TIMSS 2011):[18]

Finnland:

48,5 %

Österreich:

25,5 %

10-Jährige, die in den Naturwissenschaften den „High International Benchmark“ oder den „Advanced International Benchmark“ erreichen (Stand TIMSS 2011):[19]

Finnland:

63,0 %

Österreich:

40,5 %

Die österreichische Unterrichtsministerin hat dies offensichtlich erkannt und Österreichs Teilnahme an TIMSS abgesagt, um das erfolgreiche Wirken der differenzierten Sekundarstufe I nicht mehr sichtbar werden zu lassen!

„Man kann sich bei solchen internationalen Untersuchungen nicht nach innenpolitischer Laune einfach rein- und rausmelden.“ (Stefan Hopmann)[20]

PIAAC („PISA für Erwachsene“) zeigt, dass dieser Aufhol- und Überholprozess nach PISA eine Fortsetzung findet: Adults (aged 16-65) in Austria score far above the EU average in the Survey of Adult Skills (PIAAC) numeracy proficiency tests. The same holds true for young people (aged 16-24).“ (EU-Kommission)[21]

Fußnoten:

 

[1] OECD Skills Outlook 2015 (2015), S. 61

[2] OECD Economic Surveys – Austria (2013), S. 32

[3] Eurostat-Datenbank, Abfrage vom 1. Dezember 2015

[4] Education and Training Monitor 2014 (2014), S. 8

[5] Education And Youth Labour Market Outcomes: The Added Value Of VET (2015), S. 3

[6] Education And Youth Labour Market Outcomes: The Added Value Of VET (2015), S. 19

[7] Auf dem Weg in eine neue deutsche Bildungskatastrophe (2015), S. 58f

[8] Education And Youth Labour Market Outcomes: The Added Value Of VET (2015), S. 18

[9] thema vorarlberg vom 1. Oktober 2015

[10] Presseaussendung vom 22. Juni 2015

[11] Der Standard online am 2. November 2015

[12] Education and Training Monitor 2014 (2014), S. 71

[13] NEET Youth in the Aftermath of the Crisis (2015), S. 59

[14] Some boys’ problems in education –what is the role of VET?, in: Journal of Vocational Education & Training (2015), Vol. 67, No. 1, S. 62

[15] Weser Kurier vom 10. September 2014

[16] Schul- und Ausbildungsabbrüche in der Sekundarstufe II in Oberösterreich (2014), S. 82

[17] Bildung in Zahlen 2012/13 – Schlüsselindikatoren und Analysen (2014), S. 116

[18] Maria Magdalena Isac u. a., Teaching Practices in Primary and Secondary Schools in Europe (2015), S. 37

[19] Maria Magdalena Isac u. a., Teaching Practices in Primary and Secondary Schools in Europe (2015), S. 38

[20] Neues Volksblatt vom 20. März 2014

[21] Education and Training Monitor 2014 – Austria (2014), S. 5

 

Mag. Gerhard Riegler ist Vorsitzender der Österreichischen Professorenunion.

zur Übersicht

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)

Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print




© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung