Der für das politische Establishment der Zweiten Republik bislang stets „zuverlässige“ Verfassungsgerichtshof hat in bemerkenswerter Klarheit die Stichwahl zum Amt des Bundespräsidenten aufgehoben. Das schmeckt vielen nicht, könnte ale Ergebnis im Herbst ja doch noch ein Freiheitlicher in die Hofburg einziehen. Da liegt es nahe, mit der VfGH-Entscheidung als solcher den Anfang zu nehmen und diese zu zerpflücken. Was in einem pluralen Rechtsstaat natürlich zulässig ist.
Sowohl im ORF als auch in einem Gastkommentar in der „Presse“ vom 4.7.2016 (dort parallel zu einem die Entscheidung begrüßenden Gastkommentar) kam der emeritierte Völkerrechtler und korporierte Katholik Heribert Franz Köck zu Wort. Dessen ausführlichere Stellungnahme in der „Presse“ trägt den Titel „Höchstgericht hätte Wählerwillen achten müssen“.
Schon dieser Titel macht stutzig: Hätte der VfGH die (knappe) Mehrheit für Van der Bellen als Argument gegen eine Wahlwiederholung in seine Reflexion aufnehmen sollen, obwohl genau diese Mehrheit mit der Wahlanfechtung in Frage stand? Haben „die Österreicher“ denn ein klares Votum für Van der Bellen gegeben, gleich, was alles an rechtlichen Dingen nicht gepasst haben mag? Hat man gar als Österreicher an der Seite Van der Bellens zu stehen und nicht an der des „Deutschnationalen“ Hofer?
Der Verfassungsgerichtshof habe, so Köck, durch die Aufhebung der Stichwahl „möglicherweise die Türe zu einer veritablen innenpolitischen Krise aufgestoßen, die man gerade erst für noch einmal abgewendet gehalten hat.“ Worin besteht diese Krise? Die Tatsache, dass die Wahl wiederholt werden muss, ist nicht einmal für den noch amtierenden Bundespräsidenten eine Krise. Die für noch einmal abgewendet gehaltene „Krise“ kann offenbar nur die Möglichkeit eines freiheitlichen Bundespräsidenten sein.
(So hatte etwa der frühere ÖVP-Mandatar und Van der Bellen-Unterstützer Michael Ikrath nach dem deutlichen Vorsprung für Norbert Hofer im ersten Wahlgang ganz unverblümt bemerkt, es gehe darum, „zu verhindern, was das Schlimmste für Österreich wäre, nämlich ein freiheitlicher Bundespräsident.“)
Sehen wir uns an, was Köck als Jurist und Rechtsprofessor am VfGH-Entscheid konkret bemängelt: Dieser sei im Ergebnis falsch und in der Begründung anfechtbar. Köck geht zunächst auf den zweiten Punkt ein: Mit seinem Abheben auf verletzte Formalvorschriften habe der VfGH den Anspruch verfehlt, Gesetze nicht nach deren Buchstaben, sondern nach deren Sinn auszulegen. Köck wirft dem VfGH eine unterschiedslos gleiche Gewichtung aller verletzten Wahlrechtsbestimmungen vor und sieht als ein zukünftiges Szenario, dass jede Wahlhandlung unterbrochen oder andernfalls aufgehoben werden muss, weil irgendwo ein Beisitzer zur Verrichtung seiner Notdurft den Raum verlässt.
Dass der VfGH sehr wohl eine erkennbar unterschiedliche Gewichtung der verletzten Normen vornahm und es nicht um kurzfristige Abwesenheiten einzelner Beisitzer ging, sondern um deren erst gar nicht erfolgte Einladung und um die Auszählung durch Unbefugte, wird verschwiegen.
Im Ergebnis falsch sei laut Köck der Entscheid zur Aufhebung der Stichwahl, weil der VfGH nicht dem Wortlaut von Gesetz und Verfassung gefolgt war, eine tatsächliche Verfälschung des Wahlergebnisses nachzuweisen, sondern sich bereits damit begnügte, dass die aufgezeigten Rechtswidrigkeiten das Ergebnis beeinflussen konnten. Doch nicht allein, dass der VfGH in diesem Punkt (was Köck nicht erwähnt) bloß seiner langjährigen Judikatur gefolgt war: War bei Köck nicht eben noch die Rede davon, Normen nach deren Sinn und nicht nach deren Buchstaben auszulegen?
Der Sinn der hier in Rede stehenden Norm aber kann kaum darin liegen, eine erfolgte Manipulation auch nachweisen zu müssen: Eine solche Erfordernis könnte nachgerade als Einladung verstanden werden, „ein bisschen kriminell“ zu sein und Wahlbestimmungen geradezu mit dem Ziel zu verletzen, im Verborgenen Manipulationen durchzuführen, die sodann auch niemand nachweisen könnte. Die Bevölkerung müsste sich in einem solchen Fall, vom Verfassungsgerichtshof abgesegnet, belügen lassen. Ja, sie hätte die Lüge als „Wählerwille“ zu akzeptieren, dessen geforderte Beachtung die Lüge noch zusätzlich stabilisierte.
Der Verfassungsgerichtshof hat nicht, wie Köck dies sieht, dem Verlierer eine zweite Chance gegeben. Er hat mit seiner Entscheidung eine andere, diesfalls mit Fug und Recht veritable Krise der Demokratie abgewendet: Dass ein großer und wachsender Teil der Bevölkerung das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit von Wahlen und damit in die Legitimität des Staates und seiner Organe verliert. Gegen diese Krise sind es „Peanuts“, ob der nächste Bundespräsident Van der Bellen oder Hofer heißt.
Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph und Buchautor.