Deutschlands Politik ist richtungslos. Angela Merkels gebetsmühlenartiges Beschwören europäischer Werte verschleiert haarsträubende Widersprüche und täuscht gleichzeitig Prinzipienfestigkeit vor. Standpunktlosigkeit charakterisiert Merkels Politik in Wahrheit schon seit langem. Doch erst jetzt, angesichts einer von ihr maßgeblich mitverursachten Welle illegaler Zuwanderung, beginnen viele die existenziellen Folgen ihrer Konzeptlosigkeit zu spüren. Jüngstes Beispiel: Österreichs geplante Grenzkontrollen am Brenner. Was das offizielle Deutschland davon hält, weiß zurzeit so recht keiner mehr.
Am 29. April äußerte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière (CDU) noch Verständnis für Österreichs Haltung. Er teile die Auffassung Österreichs, dass eine „Politik des Durchwinkens" nicht wiederholt werden dürfe, und erhöhte gleichzeitig den Druck auf Rom: Italiens „Aufgabe" sei es, eine neue Flüchtlingsbewegung Richtung Norden zu verhindern und die Kontrollen an den EU-Binnengrenzen zu verstärken.
Dies schien auch Merkel vorerst so zu sehen, denn als sie kurz zuvor bei einem Treffen der Unionsfraktionschefs gefragt wurde, was geschehen solle, falls die italienische Regierung ihren Verpflichtungen nicht nachkommt und sämtliche Flüchtlinge über Italien nach Deutschland einreisen wollen, antwortete sie schlicht: „Dann macht Österreich den Brenner dicht.“ Ihre Feststellung fiel ohne jede Kritik an Österreich. Sie reichte damals als Antwort auf die Frage eines CDU-Fraktionschefs völlig aus. Das Problem schien somit gelöst.
Zu früh gefreut
Sind sich Deutschland und Österreich nun also doch einig? Leider zu früh gefreut. Am Donnerstag, als Merkel und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi eine gemeinsame Pressekonferenz gaben, war alles wieder anders: Renzi kündigte seinen fortgesetzten „Widerstand“ gegen die Grenzpolitik Österreichs an. Und: Die Ablehnung vieler der österreichischen Positionen vereine Deutschland und Italien.
Merkel ihrerseits unterstrich nach viel Lob für Italien: Die EU müsse nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ihre Werte leben: „Wir müssen andere Lösungen als Grenzschließungen finden.“ Sie sei ja auch schon gegen die von Österreich vorangetriebene Schließung der mazedonischen Grenze gewesen. „Wir können uns nicht gegenseitig im Stich lassen, sondern müssen eine faire Zusammenarbeit im EU-Raum fördern.“
Wem hier etwas schwindlig wird und wer sich verwundert die Augen reibt, wie Merkel ihren jüngsten Sinneswandel auch noch mit Hinweis auf die sogenannten „Werte der EU“ untermauert, dem sei der nicht minder skurrile Beginn ihrer „Willkommenspolitik“ in Erinnerung gerufen.
Kaschierte Unstimmigkeiten der Willkommenspolitik
Noch Mitte Juli 2015 hatte die deutsche Bundeskanzlerin einem palästinensischen Flüchtlingsmädchen vor laufender Kamera erklärt: „Wenn wir jetzt sagen: ‚Ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen, und ihr könnt alle kommen.’ Das können wir auch nicht schaffen. (Sic!!) ... Es werden manche wieder zurückgehen müssen.“
Eineinhalb Monate später, nachdem sich ein Shitstorm in den sozialen Medien über Merkels unbeholfenem Umgang mit dem in Tränen ausbrechenden Mädchen ausgelassen hat, sagte und tat die deutsche Bundeskanzlerin das genaue Gegenteil: Mit einem „Wir schaffen das!“ läutete sie am 31. August die Politik der offenen Grenzen ein.
Alle Syrer (bzw. jene, die sich als solche ausgeben) hieß sie nun willkommen, die Bestimmungen von Dublin III wurden über Nacht aufgehoben. Von Obergrenzen will Merkel seither nichts mehr wissen, und auch nicht davon, dass Deutschland einen ungebremsten Zuzug nicht schaffen könne, wie sie selbst noch im Juli eingeräumt hatte.
Merkels Richtungswechsel war mit nichts und niemandem abgestimmt. Nachbarstaaten wie Ungarn und Polen, die darüber alles andere als begeistert waren, wurden zur „bösen“ Koalition der Unwilligen und verkörpern nicht mehr „Merkels Europa“. Natürlich: Österreichs seither vollzogene 180-Grad-Wende in der Flüchtlingspolitik ist nicht minder abenteuerlich, das weitgehende Tohuwabohu heimischer Asylpolitik um nichts weniger sinnbefreit. Doch im Falle von Merkel hat das Wechseln der Standpunkte anscheinend Methode, es wurde in gewisser Hinsicht professionalisiert.
Merkel kaschiert ihre Prinzipienlosigkeit durch eine nebulose Rhetorik, die Unstimmigkeiten – oder besser gesagt: eklatante Widersprüche – kommentarlos übergeht und Konzeptlosigkeit in elementaren Fragen wie jenen der nationalen Sicherheit als Festhalten an hehren, europäischen Werten ausgibt. Sollte dies das Kennzeichen heutiger Politik sein, so ist Merkel ihr vollendetes Aushängeschild. Das schöne Gesicht Deutschlands, das Merkel der Welt zeigen wollte, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ängstliches Zurückschrecken vor den Stimmungslagen einer zunehmend moralisierten Öffentlichkeit. Dahinter verbirgt sich bestenfalls postmoderne Standpunktlosigkeit.
Die Feindbilder werden ausgewechselt, die Tatsachen verdreht
Mit Merkels Standpunkten wechseln auch die Anderen, die Unwilligen und Uneinsichtigen, von denen sich die deutsche Bundeskanzlerin gerne abgegrenzt. Beim Parteitag der CDU im Dezember 2003 waren das noch all jene politisch Korrekten, die jegliche Fremde in Deutschland willkommen hießen: „Manche unserer Gegner können es sich nicht verkneifen, uns in der Zuwanderungsdiskussion in die rechtsextreme Ecke zu rücken, nur weil wir im Zusammenhang mit der Zuwanderung auf die Gefahr von Parallelgesellschaften aufmerksam machen“, erklärte damals die CDU-Vorsitzende. „Das, liebe Freunde, ist der Gipfel der Verlogenheit, und eine solche Scheinheiligkeit wird vor den Menschen wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Deshalb werden wir auch weiter eine geregelte Steuerung und Begrenzung (sic!!) von Zuwanderung fordern.“ Zusammengebrochen ist seither nur die Begrenzung jeglicher illegaler Zuwanderung, zutage getreten ist Merkels eigene Standpunktlosigkeit.
Merkels Sprache verdeckt nicht nur die fehlende Konsistenz ihrer Politik, sie vernebelt auch des Öfteren die Sachlage. Eine ihrer vielen „Nebelgranaten“ ließ sie im vergangenen Jänner in einer Videobotschaft hochgehen: Man müsse, so erklärte sie, die Türkei unterstützen, denn es sei im europäischen Interesse, dass es den dort lebenden Flüchtlingen gut gehe, „sodass sie dann keinen Grund sehen zu fliehen aus der Türkei“.
Zu fliehen? Vor wem? Doch sicher nicht vor dem türkischen Staat, der sich damit rühmt, Unsummen für die Unterkünfte von Millionen von Flüchtlingen auszugeben. Gemäß der Genfer Konvention ist Flüchtling nur, wer aus begründeter Furcht vor Verfolgung in das Land seiner Staatsangehörigkeit nicht zurückkehren will.
Merkels Formulierung unterschlägt, dass Syrer, die aus der Türkei kommend unkontrolliert die Grenzen zu Europa überqueren, keine Flüchtlinge, sondern schlicht illegale Migranten sind. Doch mit diesem Eingeständnis würde Merkel ihre gesamte jetzige Willkommenspolitik in Frage stellen.
Jeder Richtungswechsel ist „alternativlos“
Bemerkenswert ist auch Merkels Lieblingswort, mit dem sie jede ihrer neuen Richtungswechsel rechtfertigt: „alternativlos“. Ob nun „Sparpakete“, finanzielle Hilfen für Griechenland, neue Abmachungen mit der Türkei: Merkel stellt sich mit jeder neuen Maßnahme gleichsam als Vollstreckerin einer höheren, unausweichlichen Macht dar, egal wie viele EU-Richtlinien damit gebrochen werden. Mit dem Wort „alternativlos“ vermeidet sie es, auf diese Unstimmigkeiten auch nur einzugehen, einer inhaltlichen Debatte glaubt sie sich so enthalten zu können.
Europas Länder sind gut beraten, ihre Wege abseits der Vorgaben aus Berlin zu beschreiten, denn was von dort kommt, ist so verlässlich und prinzipientreu wie ein Fähnchen im Wind der öffentlichen Meinung. Tatsächlich ist Merkels dauerndes Sich-Ausrichten nach neuen Stimmungslagen der einzig erkennbare rote Faden ihrer Entscheidungen. Unschöne Bilder, die die Öffentlichkeit verängstigen könnten, sind allem Anschein nach die schlagendsten aller Argumente.
Nein, das ist nicht „Merkels Europa“, denn in dem müssten alle auf der Stelle springen, wenn die deutsche Bundeskanzlerin „Spring!“ schreit, und alle einen Handstand machen, wenn sie ebensolches verlangt. Dies alles selbstverständlich im Sinne der europäischen Werte, die jegliche staatliche Alleingänge nicht zulassen. Vernünftige, nachvollziehbare und langfristige Politik ist im heutigen Europa sehr wohl noch möglich, allerdings nicht mit Merkel.
Johannes Knob ist das Pseudonym eines bekannten Journalisten, der bei einem anderen österreichischen Medium beschäftigt ist, wo er diesen Text leider nicht veröffentlichen kann.