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Vom "Blutsonntag" zum "Alltagsfaschismus"

Tiroler diesseits und jenseits des Brenners, die noch einen Funken Heimat- und Vaterlandsliebe im Leibe tragen sowie über ein gerüttelt Maß Geschichtsbewustsein verfügen, gedenken in diesen Tagen eines Ereignisses vor 95 Jahren, welches als Inauguration des Faschismus in jener Nordprovinz Italiens gilt, welche es als Belohnung für seinen Seitenwechsel 1915, mithin als Kriegsbeute 1919 in St. Germain-en-Laye erhielt.

Am 24. April 1921 wurde der Lehrer Franz Innerhofer in Bozen vom Schläger eines Kommandos der „fasci di combattimento“ Benito Mussolinis ermordet. Innerhofer hatte mit der Musikkapelle aus Marling bei Meran am Trachtenumzug anlässlich der ersten Bozner Nachkriegs-Mustermesse teilgenommen. Unter den Umzug hatten sich einige der zu einer „Strafexpedition gegen diese Manifestation des Deutschtums“ ausgerückten und in der Provinzhauptstadt versammelten 400 faschistischen Schläger (120 aus Bozen, 380 aus Trient, Brescia und Verona) gemischt und zwischen Waltherplatz und Obstmarkt ein Blutbad angerichtet. Infolge von Schüssen und Handgranaten-Detonationen waren annähernd fünfzig Personen schwer verletzt worden. Der Vorfall ist als „Bozner Blutsonntag“ in die Annalen eingegangen.

Im Gedenken an das erste ohne Rücksicht auf Verluste unternommene Zuschlagen der Schwarzhemden findet auch eine zweite, von Planung, Ausführung, Umfang und Folgen weit größere derartige „Strafaktion“ ihren Platz. Es handelt sich um den „Marsch auf Bozen“ (1./2. Oktober 1922), sozusagen um die Generalprobe für den „Marsch auf Rom“ am 27. Oktober, im Zuge dessen es zur Machtübernahme Mussolinis am 30. Oktober 1922 kam. Es war der Anfang vom Ende der unter Bürgermeister Julius Perathoner stehenden effizienten Verwaltung sowie des über Jahrhunderte währenden deutschen Charakters der Stadt. Perathoner, von 1901 bis 1911 Reichsratsabgeordneter in Wien, von 1902 bis 1907 Landtagsabgeordneter in Innsbruck und letzter deutscher Bürgermeister Bozens, war 1895 gewählt und im Oktober 1922 seines Amtes enthoben worden.

Schon die faschistischen Horden des „Blutsonntags“ hatten in Sprechchören seinen Rücktritt verlangt. Wie im Jahr zuvor beugte er sich weder dem am 29. September 1922 von der Bozner Fascio-Ortsgruppe ultimativ erhobenen Rücktrittsverlangen noch der Aufforderung, die Kaiserin-Elisabeth-Schule, damals größte und modernste Schule der Stadt, für den Unterricht in italienischer Sprache zur Verfügung zu stellen.

Daraufhin marschierten am 1. Oktober 1922 unter Führung Achille Staraces, des späteren Generalsekretärs des Partito Nazionale Fascista (PNF, Faschistische Partei Italiens), mehrere Hundert Gefolgsleute Mussolinis aus Oberitalien in Bozen ein, besetzten die Schule, stürmten am 2. Oktober das Rathaus, hissten die italienische Tricolore und verkündeten: „Es gibt nur ein Gesetz, und das heißt Italien!“ Hausherr Julius Perathoner  wurde daraufhin von der zu diesem Zeitpunkt noch demokratischen römischen Regierung unter dem (schwachen) Liberalen Luigi Facta per Dekret in vorauseilendem Gehorsam abgesetzt und später durch einen faschistischen Amtsbürgermeister (Podestà) ersetzt.

Mit der Machtübernahme Mussolinis nach dem „Marsch auf Rom“ proklamierte der als Namenfälscher in die Geschichte eingegangene Nationalist und Faschist Ettore Tolomei, der sich schon 1905 in Glen bei Montan im Südtiroler Unterland niedergelassen und das „Archivio per l'Alto Adige“ gegründet hatte, in Bozen ein im Auftrag Mussolinis ausgearbeitetes Programm zur „Re-Italianisierung“ des Landes. Es umfasste die Entnationalisierung der Südtiroler und die Ansiedlung von (Süd-)Italienern im Bozner Becken.

Der Unterricht in deutscher Sprache wurde verboten, das deutschsprachige Lehrpersonal in italienische Provinzen versetzt. Deutschunterricht konnte nur noch geheim in „Katakombenschulen“ erteilt werden, welche maßgeblich von Kanonikus Michael Gamper organisiert worden waren, dessen 60. Todestags man ebenfalls soeben in Südtirol gedachte. Dekretiert wurde der ausschließliche Gebrauch meist künstlich geschaffener italienischer Ortsnamen Tolomei’scher Prägung sowie deutscher Familiennamen in italianisierter Form bis hin zu Grabsteinaufschriften. Der Name Tirol wurde verboten, sämtliche wirtschaftlich-sozialen Verbände, alle Vereine wurden aufgelöst.

Die Italianisierungspolitik wurde durch die massive Ansiedlung von Italienern aus anderen Gebieten des Stiefels mit dem Ziel verstärkt, die Deutschtiroler in die Minderheit zu drängen. Ein Verfahren, das auch  „demokratische“ Nachkriegsregierungen Italiens trotz der im 1946 zwischen dem österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Regierungschef Alcide DeGasperi geschlossenen Pariser Abkommen zugesicherten politischen Selbstverwaltung und kulturellen Autonomie fortführten. Dies sollte auch die aus dem zwischen Hitler und Mussolini am 21. Oktober 1939 getroffenen Optionsabkommen zur Umsiedlung von Südtirolern ins Reich entstandenen Verwerfungen allmählich wieder ausgleichen.

Gegen die Nichtgewährung der Selbstbestimmung, die weitere Ansiedlung von Italienern sowie die damit beabsichtigte ethnische Majorisierung der Provinz, vor allem deren Hauptstadt, begehrten nicht wenige Südtiroler in den 1950er und 1960er Jahren auf. Und beherzte Idealisten um Sepp Kerschbaumer, den charismatischen Gründer des „Befreiungsausschusses Südtirols“ (BAS), machten durch gezielte Anschläge auf „Volkswohnbauten“ und andere italienische Einrichtungen die Weltöffentlichkeit auf die faktische neofaschistische Politik Italiens aufmerksam.

Es galt den zurecht befürchteten „Todesmarsch der Südtiroler“ – so der Titel des Leitartikels des Michael Gamper in der Tageszeitung „Dolomiten“ vom 28. Oktober 1953“ – abzuwenden. Dafür wurden sie in Carabinieri-Kasernen gefoltert und in menschen- sowie strafrechtlich fragwürdigen Gerichtsverfahren zu langjährigem Freiheitsentzug verurteilt und ihre Familien kollektiv mitbelangt.

Nicht zuletzt durch Eingreifen Österreichs – hier vornehmlich des Sozialisten Bruno Kreisky, der das Verhalten Italiens vor den Vereinten Nationen (UN) anprangerte – konnte in langwierigen Verhandlungen mit dem hinterlistigen und störrischen Rom schließlich ein Modus vivendi ausgehandelt werden. Ergebnis war das 1972 in Kraft getretene Zweite Autonomiestatut, ein statutarischer Rechtsrahmen für die Provincia Autonoma di Bolzano – Alto Adige (Autonome Provinz Bozen-Südtirol). Weitere zwanzig Jahre sollten verstreichen, bis der seit Ende des Ersten Weltkriegs bestehende Südtirol-Konflikt von Wien und Rom im völkerrechtlichen Sinne für beigelegt erklärt werden konnte.

Das kann – trotz allseits volltönend propagierter „Modellhaftigkeit“ für andere Minderheiten – natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Grundkonflikt, nämlich die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Südtiroler, ungelöst ist. Es ist auch eine Illusion zu glauben, der von Mussolini und seinen Adepten erzeugte Ungeist sei ausgelöscht. Nein, in den Köpfen vieler Italiener Südtirols lebt er fort und tritt in semi-, post-, neo- oder kryptofaschistischer Form und Gestalt in Erscheinung. Womit sich just der Kreis zur „Hauptstadt“ und ihrer Geschichte seit nunmehr bald hundert Jahren schließt.

Für 8.Mai steht die Wahl eines neuen Kommunalparlaments für Bozen an. Dass der „befreiende“ 8. Mai 1945 für die terminliche Bestimmung des Urnengangs der Wahlberechtigten unter den 105.000 Bewohnern (laut offizieller „Sprachgruppen“-Zugehörigkeit 73,8 Prozent italienisch; 25,5 Prozent deutsch; 0,7 Prozent ladinisch) eine Rolle gespielt haben könnte, dürfte angesichts der am Zusammenfluss von Eisack und Etsch weithin anzutreffenden Geschichtsignoranz auszuschließen sein. Auch der „Blutsonntag“ von einst ist allenfalls für ein paar geschichtsbewusste Patrioten ein Begriff. Gleichwohl bietet sich für alte und neue, offene und verkappte „Mussolinisti“ der „Marsch auf Bozen“ von anno 1922 als Metapher für ihr nie aufgegebenes Ziel, die einstige Kriegsbeute so total der Italianità anzuverwandeln, dass von seinem deutsch-österreichischen Charakter und seiner tirolischen Ausprägung nichts mehr bleibt.    

Bozen beherbergt unsägliche, das Mussolini-Regime verherrlichende Relikte: das „Siegesdenkmal“ und das monumentales erst 1957(!) fertiggestelltes „Duce“-Fries am Finanzamt, vormals „Casa del Fascio“ [„Haus der Faschisten(-Partei)“]. Die Stadt ist entgegen allen Befunden und Schwüren multiethnischen Miteinander(leben)s (Convivenca) nach wie vor ein Hort jener Kräfte, die zwischen übersteigertem italienischen Nationalgefühl und offen zur Schau getragenem, lauthals hinausposaunte Fascio-Gebaren changieren.

Weltanschauliches Sendungsbewusstsein tritt bei den einen eher verdeckt-unterschwellig, bei den anderen offen zutage. Mal operieren sie weltschmerzklägerisch verbal mit angeblicher „Unterdrückung im eigenen Lande“, mal spielen sie sich gönnerhaft als kulturell-ästhetische Norminstanzen auf. Und pochen stets auf „Siamo in Italia“ („Wir sind hier in Italien“).

Aus der EUropäischen Flüchtlingskrise dürften die italienischen Parteien der äußersten Rechten, so zersplittert und/oder fraktioniert sie trotz neuerdings geltender Fünf-Prozent-Klausel gegenwärtig auch auftreten, bei der Bozner Wahl besonders Honig saugen können. Der gemeinsame Auftritt des Gründers und Führers der neofaschistischen Partei Forza Nuova (FN) Roberto Fiore – er löste die Duce-Enkelin Alessandra Mussolini im Europäischen Parlament ab – mit dem deutschen NPD-Funktionär Uwe Meenen gegen die „Flüchtlingsinvasion“, zu dem sich Fußvolk aus Trient, Rimini und Vicenza einfand, darf als „grenzüberschreitende“ Stimulanz für die wahlkämpfenden Bozner „Kameraden“ gelten.

Die Unterstützung von außen richtet sich gleichermaßen an die Funktionäre beiderlei (neu-)faschistischer Provenienz. Zum einen an die moderate(re)n, samtpfötiger auftretenden vom Schlage eines Giorgio Holzmann. Der chamäleonhaft verwandelte Alt-Neofaschist führt den italienischen Rechtsblock „Alleanza per Bolzano“. Zum andern an die von nicht wenigen Jungwählern unterstützten radikale(re)n Neu-Neofaschisten Maurizio Puglisi Ghizzi und dessen Alter Ego Andrea Bonazza, Ratsmitglied bis zur Auflösung des Bozner Stadtparlaments. Ghizzi ist Bürgermeisterkandidat der nach dem amerikanischen Schriftsteller und glühenden Mussolini-Verehrer Ezra Pound benannten, dezidiert faschistischen Bewegung „Casa Pound“, deren Mitglieder bisweilen durchaus von „Strafaktionen“ à la „fascio di combattimento“ unseligen Angedenkens träumen mögen.  

Mit Ausnahme der ziemlich chancenlosen Süd-Tiroler Freiheit (STF) und ihres Bürgermeisterkandidaten Cristian Kollmann verhalten sich alle anderen zur Kommunalwahl antretenden deutschtiroler und italienischen Parteien links und rechts der Mitte, einschließlich der „interethnischen“ Grün-Alternativen/Verdi, gegenüber Holzmann und – vor allem – Ghizzi  so schulterzuckend gleichgültig, als ob es das Normalste von der Welt wäre, was sie vertreten und propagieren. Das gilt auch und gerade für Christoph Baur, den Spitzenkandidaten der Südtiroler Volkspartei (SVP): Wenngleich ihm „extreme Positionen zuwider“ seien, wie sie vor allem „italienische Rechtspopulisten“ verträten, kann er sich „eine Koalition mit allen Parteien vorstellen“.

Dies mag Symptom genug dafür sein, dass der Vorwurf all derer, die dazu in Opposition stehen, nicht länger als Unkenruf abgetan werden kann, wonach die Gewöhnung an einen Zustand, den sie „Alltagsfaschismus“ nennen, bereits weit fortgeschritten sei. Die immer augenfälligeren Arrangements mit den zusehends italienisch bestimmten Daseinsgegebenheiten in Bozen sind mehr als ein politisch-gesellschaftliches Ärgernis. Sie sprechen dem Opfergang des von Ahnherrn der heutigen Faschisten umgebrachten Franz Innerhofer sowie allen Südtiroler Freiheitskämpfern Hohn.

Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

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