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Leopold Kohr: Oder warum die EU zu scheitern droht

Die Stimmen werden zunehmend häufiger und lauter, die davon ausgehen, dass die EU scheitern könnte, oder bereits im Scheitern begriffen ist. Es stellt sich dabei die Frage, ob die Entscheidungsträger nur dies oder das besser machen müssten (vielleicht neu durchstarten), um ein solches Scheitern noch zu verhindern. Oder ob wir die Gene des Scheiterns im System geradezu unveränderbar mit uns tragen und dies z.B. mit einem möglichen Brexit auch für jedermann sichtbar werden wird.

Der am 5. Oktober 1909 in Oberndorf bei Salzburg geborene und am 26. Februar 1994 in Gloucester, England gestorbene Leopold Kohr, war vielfältig begabt und qualifiziert, in vielen Ländern bekannt und hochgeachtet sowie Träger des Alternativnobelpreises. Der Salzburger Ökonom und Denker sah in der Konstruktion der EU zwei Hauptprobleme, die schier unlösbar und unveränderbar erscheinen:

  1. Die EU wird von einem übermächtigen Deutschland vor sich hergetrieben.
  2. Die EU ist viel zu groß und damit unregierbar und auch nicht kontrollierbar.

Man kann es drehen und wenden wie man will, die EU wird de facto von der deutschen Kanzlerin geleitet. Sie gibt die Themen vor, sei es die Rettung Griechenlands, sei es die Willkommenskultur etc. Die hohen EU-Institutionen scheinen dabei immer mehr zu reinen Erfüllungsgehilfen Deutschlands zu verkommen. So ist der Kommissionspräsident ja kaum noch präsent, was einen ja nicht wundern sollte. Wurde dieser doch von den Regierungschefs bestellt, die, hält man sich an das, was im Netz dazu zu finden ist, sich schon damals seines massiven Alkoholproblems bewusst sein mussten. Ein Schelm, der dabei vermutet, man wäre darüber gar nicht so unglücklich gewesen, nun eine Marionette für dieses eigentlich so zentrale Amt bestellen zu können.

Vielleicht würden manche eine dominante Führung der EU durch Deutschland schon wollen, aber ich vermute, die meisten Bürger Europas wollen gerade das nicht. Und nicht zuletzt funktioniert es so ja einfach nicht, wie sich an allen Ecken und Enden zeigt.

Dieser Führungsanspruch von Frau Merkel wurde gerade in letzten Tagen (erneut) glasklar erkennbar: Wenn Obama nach Europa kommt, dann primär zu Frau Merkel. Obama, der Präsident der USA trifft Merkel, die Chefin der EU – so war es inszeniert. Zu einem abschließenden „Minigipfel“ zieht Merkel dann doch noch einige wenige Staatschefs (anderer großer Nationen) hinzu – als Feigenblatt? Wie fühlt man sich als Österreicher dabei, als Ungar, Schwede, Tscheche oder gar als Malteser?

Leopold Kohr hat diese Entwicklung Europas hin zu einer Hegemonie des weit übermächtigen Deutschlands und riesige Probleme der EU, die durch deren schiere Größe entstehen vorhergesagt und massiv kritisiert. Die Entwicklungen der letzten Jahre geben ihm Recht, doch wie begründet er seine Position?

Das Problem der schieren Größe

Die zentrale These Kohrs findet sich in seinen Aufsätzen aus fünf Jahrzehnten seines Wirkens, die in dem Buch „Die Lehre vom rechten Maß“ veröffentlicht sind und diese These besagt im Aufgreifen des berühmten Satzes von Protagoras, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. Für Kohr ist das Hauptproblem unserer Zeit primär dimensional. Also die schiere Größenentwicklung von Systemen: „Nicht die Polis, nicht die Nation, nicht das Volk, nicht die Menschheit, nicht der Absatzmarkt, nicht die Maschine, nicht das Geschäft, nicht die Arbeiterklasse, nicht der Computer, nicht unsere Institutionen: Es ist der Mensch. Alles und jegliches muss an ihm gemessen werden – wie der heilige Augustinus in seinem Wunsch nach kleineren Staaten anstelle einer großen Macht klar gemacht hat –, und es handelt sich um einen sehr kleinen Maßstab.“

Leopold Kohr wendet sich fundamental gegen eine Bevormundungsmentalität, die naturgesetzlich dann entsteht, wenn Systeme zu groß werden, so z.B. in einer immer stärker integrierten Wirtschaft oder auch in immer größeren politischen Systemen und Gesellschaften. Diese sieht er jedenfalls dann als besonders problematisch an, wenn sie eine Größe erreichen, die sie gegenüber einer wirksamen Kontrolle geradezu immun machen. Nicht weil solche Wirtschaftskörper (das gleiche gilt natürlich auch für politische Systeme etc.) Kontrolle nicht mehr akzeptieren würden (das vielleicht auch), sondern weil sich diese durch ihr schieres Ausmaß jeglicher menschlicher Kontrolle und Fassbarkeit entziehen. In solchen Größenordnungen bleibt Kontrolle eine Illusion, die einfach nicht mehr herstellbar ist, ganz gleich, was man auch versucht. Wirksame Kontrolle könnte dann nur mehr über eine Verringerung der Größe zurückgewonnen werden und auf keinem anderen Weg.

Für Kohr ist klar, dass in allen Systemen (so natürlich auch in der EU!) immer auch zerstörerische Kräfte am Werk sind, deren zerstörerische Wirkung sich mit dem Größenwachstum der Systeme vervielfacht. Folgerichtig, so Kohr, „besteht die einzige Lösung in der Konstruktion eines Deichsystems: Eine Einteilung in verhältnismäßig kleine Einheiten, die durch Wälle getrennt, aber doch durch kleine Öffnungen miteinander verbunden sind, wodurch die geschützten Einheiten sowohl untereinander als auch mit dem freien Markt außerhalb verbunden sind.“ Unter solchen Bedingungen können negative Kräfte nicht ausufern und selbst wenn es zu Katastrophen kommen sollte, bleiben diese begrenzt und gefährden nicht das große Ganze.

Für Leopold Kohr bestehen die wahren Probleme unserer Zeit nicht in der Arbeitslosigkeit an sich, nicht in den Kriegen oder der Armut an sich. Für Kohr ist das neue Problem, das diese Welt bedrängt, das schiere und gigantische Ausmaß dieser Übel. Man wäre geneigt hinzuzufügen, dass das Problem dieser Tage auch nicht Flüchtlings- und Migrantenströme an sich sind, das Problem ist das schiere Ausmaß dieser Völkerwanderungen. Große Systeme sind für Kohr nie der Weg zur Lösung der Probleme, sondern führen einfach zu immer größeren Übeln. Soviel zur Frage, ob die bestehenden Probleme wirklich durch ein „Mehr an EU“ lösbar sein können!

Freiheit und Gerechtigkeit?

Trauen wir dem Menschen zu, Entscheidungen in Freiheit zu treffen, oder bevormunden wir ihn in immer stärkeren Maße, indem seine Freiheit durch Institutionen aller Art mehr und mehr eingeschränkt wird? Es ist dies natürlich zutiefst eine Frage der Würde des Menschen, die dabei zur Disposition steht. Dabei sind es gerade die Eliten großer Systeme, in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft, Kunst und Religion, die den Menschen entmündigen und ihn als Objekt ihrer Präferenzen sehen.

Das sind genau diejenigen Entscheidungsträger, die für die Menschen die Entscheidungen treffen, die diese selbst so niemals treffen würden, weil sie vermeintlich ja gar nicht wissen, was für sie gut ist und was nicht. Zum Guten müssten sie gezwungen werden, so das Kalkül, das aber im Sinne der sehr nachvollziehbaren Argumentation von Ludwig Mises vielleicht langsam, jedenfalls aber auf direktem Wege in die Tyrannei führt.

Das Mittel der Wahl zur Herstellung einer neuen Gerechtigkeit ist neben der der Einschränkung der Mitbestimmung der Bürger in immer größeren und zunehmend unüberschaubar werdenden Systemen, mit mehrstufig mittelbarer Pseudodemokratie, vor allem die Einschränkung des Eigentums. Dazu meint Ludwig Mises:  „Wenn ihm (Anm. dem Eigentümer) die Verfügungsmöglichkeit stückweise genommen wird, indem der Staat sich immer mehr Einfluß [….] sichert [….], so wird dem Eigentümer immer mehr und mehr entzogen, bis ihm schließlich nur der leere Name des Eigentums bleibt, das Eigentum selbst aber ganz in die Hände des Staates übergegangen ist.“

Es geht, wie Mises das sieht, um den – auf den ersten Blick natürlich äußerst attraktiven – Gedanken, „einer unbegrenzten Menge Menschen auf Erden ein Paradies zu schaffen. Selbst der sonst vorsichtig zurückhaltende Marx meint, die sozialistische Gesellschaft werde die Bedürfnisse jedes einzelnen zum Maßstabe der Verteilung machen können.“

Manche würden wohl zu bedenken geben, dass der Verteilungsfrage ja immer die Frage voranzustellen ist, wie groß der Kuchen denn sei, der verteilt werden könne. Verteilungsenthusiasten gehen davon aus, dass dieser Kuchen immer vorhanden und immer groß genug sei. Die Liberalen geben jedoch zu bedenken, dass sich aus der Geschichte klar ergibt, dass dieser Kuchen gerade in sozialistischen Systemen sosehr schrumpft, dass am Ende kaum mehr etwas zu verteilen bleibt, das nicht durch die ausufernden und nur vorgeblich gerechten Verteilungsinstitution und Machtapparate aufgefressen wird.

Der Zugang, der (folgt man den Medienberichten) immer populärer zu werden scheint, gleicht den Überlegungen des frühen Sozialismus, den Mises wie folgt charakterisiert und als völlig verfehlt kritisiert: „Der Gedankengang, von dem sie sich haben leiten lassen, ist der, daß die Natur selbst allen Menschen ein genügendes Auskommen gewähre, und daß nur verkehrte gesellschaftliche Einrichtungen an der ungenügenden Versorgung eines großen Teiles der Menschheit Schuld trügen. Würde es gelingen, den Reichen das abzunehmen, was sie über das „Notwendige“ verzehren dürfen, dann könnten alle in die Lage versetzt werden, anständig zu leben.“

Warum die Schweiz funktioniert – und die EU nicht

Kohr kritisierte die EU als einen Verband europäischer Nationen, die von erheblich ungleicher Größe und Stärke sind, was den Verband an sich überaus instabil macht. Er hielt sie für eine „Fehlkonstruktion von weltgeschichtlicher Dimension“. Für ihn stand außer Zweifel, dass in solchen Konstellationen die EU letzten Endes als reines Instrument der mächtigsten Sub-Nation enden wird.

Diese Entwicklung hin zu einer Vormachtstellung der größten Sub-Einheit vergleicht Kohr mit dem „Schwerkraftgesetz das besagt: Die Anziehungskraft vermindert sich mit dem Quadrat der Distanz von seinem Zentrum.“ Oder anders gesagt: Dort, wo das Zentrum über sehr viel Masse verfügt und die Nähe zu diesem Zentrum immer größer wird, kommt es naturgesetzlich zu einer Zusammenballung im Zentrum und zum Untergang der früher selbständigen Teile.

Die Antithese zur EU sieht Kohr in der Schweiz, der viele ja fälschlich den unmittelbar bevorstehenden Untergang prophezeit hatten, würde sie der EU ferne bleiben. Er sieht die Stärke der Schweiz in der Ablehnung des reinen Größen- und Effizienzarguments: „Hätten sie dem Argument wirtschaftlicher Effizienz Gehör geschenkt, dann würde die Schweiz ihre 25 Kantone und Halbkantone abgeschafft haben und an ihrer Stelle ihre vier Sprachnationalitäten (deutsch, italienisch, französisch und romanisch) als ihre Gliedstaaten organisiert. Das hätte den Staatenbund vereinfacht, aber die Größe der Schweizer Idee zerstört. Die Folge wäre die Vorherrschaft des deutschsprachigen Blocks und die Degradierung der anderen zu hoffnungslosen Minderheiten geworden.“ Für Kohr liegt die Stärke der Schweiz wesentlich darin, durch die vielen Kantone die einzelnen Sprachgruppen nicht zu stark werden zu lassen, um das Ganze in Harmonie zu vereinigen und zusammenzuhalten.

Für Kohr wäre genau dieses Modell auch für Europa der Weg, um nicht in einer Hegemonie eines übermächtigen Deutschlands zu enden. Der Salzburger Nationalökonom, Jurist, Staatswissenschaftler und Ökonom hatte zur Frage, was denn angesichts dieser Problematik zu tun sei, eine klare Meinung, die Jakob von Uexküll in seinem Vorwort zum Buch Kohrs über „Die Lehre vom rechten Maß“ so zusammengefasst hat: „Kohr wusste, dass er provozieren musste, um gehört zu werden im Lärm der „Bigger is Better!“ – Propaganda der herrschenden Wachstums-Fanatiker. So forderte er, zu einer Zeit, als immer mehr Europäer von einer Union träumten, kurz und bündig: „Disunion NOW!“. Natürlich muss man diese Meinung nicht teilen, aber bedenkenswert ist sie allemal!

Sukkus

Leopold Kohr hat seine zentrale Erkenntnis in einem Interview mit Franz Kreuzer im Jahr 1990 überaus pointiert auf den Punkt gebracht und gesagt: „Ja, Gott zerschlägt Babylon, wo er es findet. Die Natur hat die Tendenz, alles was zu groß wird, zu vernichten, und alles, was sie vernichten will, zu groß werden zu lassen.“

Unweigerlich wird man bei der Lektüre von Kohr viele Gedankenanstöße zu sehr aktuellen Entwicklungen entdecken und sich fragen müssen, ob z.B. der gebetsmühlenartig gedroschene Satz, dass es zur Lösung der anstehenden Probleme, einfach nur noch einer deutlich umfassenderen EU-Integration bedürfte, wirklich unwidersprochen bleiben darf. Dennoch: Die Schlussfolgerungen für die EU aus alledem überlasse ich Ihnen! Für mich selbst, als grundsätzlichen Befürworter der EU, bietet sich daraus jedoch ein hinreichend klares und durchaus düsteres Bild der Zukunft dieser Staatengemeinschaft.

Mag. Johannes Leitner ist verheiratet und Vater von sechs Kindern. Er ist Leiter eines genossenschaftlichen Revisionsverbandes, Steuerberater und langjähriger Leiter einer christlichen Laiengemeinschaft im Raum Wien.

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