„Ich erwarte mir, dass alle Mitglieder des Bundesparteivorstandes zu den dort getroffenen Beschlüssen stehen“, meinte Wiens-ÖVP-Chef Gernot Blümel anlässlich der Bestrebungen in der ÖVP, die paktierte Regelung für die Gesamtschule wieder aufzuweichen. Es könne nicht sein, betonte Blümel in der Presse, dass drei Monate nach Abschluss der Bildungsreform die Linie geändert werde und meinte dazu wörtlich: „Gibt man den Sozialisten den kleinen Finger, ist gleich die ganze Hand weg.“
Ist Gernot Blümel der einzige in der ÖVP, der merkt, dass die SPÖ mit ihrer höchst erfolgreichen Salamitaktik seit Jahren der ÖVP eine wichtige Position nach der anderen aushöhlt?
Dauerthema Nicht-Reformen
Das war bei der sogenannten Steuerreform so, die ja in Wirklichkeit als Tarifreform mit neuen Belastungen – vor allem für den Mittelstand – endete. Gleiches gilt für die sogenannte Schulreform, bei der die ÖVP den SPÖ-Forderungen ohnehin zu weit nachgegeben hatte. Aber selbst diese Vereinbarung wurde bereits nach wenigen Tagen von der roten Unterrichtsministerin mit weitergehenden Forderungen in Frage gestellt.
Dazu kommt, dass seitens der ÖVP keinerlei kritische Stimmen in Bezug auf die skandalösen Detailergebnisse bei der Zentralmatura zu verzeichnen sind. Die Daten waren von Frau Heinisch-Hosek monatelang unter Verschluss gehalten worden: aus gutem Grund, weil sie – ebenso wie die Tatsache, dass rund 30 Prozent der 15-Jährigen nicht ordentlich schreiben, lesen oder rechnen können – das Versagen der roten Bildungspolitik dokumentieren. Die ÖVP nimmt diese Entwicklungen stillschweigend zur Kenntnis.
Besonders krass war die Defensivhaltung der ÖVP bei der großangekündigten Pensionsreform, die dann schließlich nur ein „Pensionsgipfel“ werden sollte. Zwei zentrale Forderungen – die Pensionsautomatik sowie die raschere Angleichung des Frauenpensionsalters – hat die ÖVP noch vor dem Gipfel verschämt entsorgt und damit Finanzminister Hansjörg Schelling desavouiert, der folglich auch an den mageren Ergebnissen Kritik übte.
Besonders laut war die Kritik an der beabsichtigten Bestrafung von ASVG-Pensionisten, die in der Pension dazuverdienen wollen. (Experten hatten gehofft, dass die Ungleichbehandlung zwischen Beamten und ASVG-Pensionisten beim Zuverdienst beseitigt werden würde; sie wurde jedoch verschärft!) Treibende Kraft hinter dieser – und anderen leistungsfeindlichen Forderungen – sind Arbeiterkammer und ÖGB, die als ausgelagerter Think-Tank heute in Wahrheit den wirtschaftsfeindlichen Kurs der SPÖ diktieren.
Spätes Erstaunen
Und in der Causa prima, der Flüchtlingsfrage hat der wendige SPÖ-Chef blitzartig eine 180-Grad-Drehung vollzogen. Was bei anderen Politikern als ein „Umfaller“ bezeichnet würde, ist für die journalistischen Flakhelfer des Kanzlers dessen „Wandlung zum Staatsmann“. Dafür durfte er auch allein bei Ingrid Thurnher „seine“ neue Flüchtlingspolitik erklären, die eigentlich auf den Forderungen wichtiger ÖVP-Politiker beruht, die schon lange vor dem Kanzler die Ausweglosigkeit der Politik der offenen Grenzen erkannt hatten. Dieser beispiellose Medienskandal, der sich nicht zufällig im Vorfeld der Neubestellung der ORF-Spitze abspielt, ließ auch bei Reinhold Mitterlehner die Erkenntnis reifen, dass der ORF nach jahrzehntelanger roter Personalpolitik eine starke SPÖ-Schlagseite hat. Er soll sich nicht wundern, denn seine Partei hat seit Jahrzehnten weder eine Medienpolitik, geschweige denn eine Strategie.
Was ist eigentlich aus der Partei geworden, die im Vorjahr ein neues Grundsatzprogramm formulierte, in dem so seltsame Vokabeln wie „Freiheit“, „Eigenverantwortung“ oder gar „Leistung“ vorkommen. Hat wirklich nur Gernot Blümel dieses Papier gelesen? Er, Sebastian Kurz und Hansjörg Schelling sind so ziemlich die einzigen, die versuchen, sich gegen diesen Kurs des ständigen Nachgebens zu stemmen, der mittlerweile auch geeignet ist, eine neuerliche Obmann-Diskussion auszulösen.
Genau vor einem Jahr erntete ich mit einem Kommentar zum Thema „Die ÖVP gibt sich auf“ breite Zustimmung bei den Lesern sowie Verärgerung im Partei-Establishment. Die Frage ist: Was hat sich in den zwölf Monaten geändert? Und glaubt die ÖVP wirklich, jemals wieder eine Nationalratswahl zu gewinnen, wenn sie der SPÖ Schritt für Schritt nachgibt und eigene Positionen aufgibt? Das kann wertkonservativen Menschen nicht egal sein, denn welche Partei sonst sollte ihre Interessen vertreten?
Prof. Dr. Herbert Kaspar war langjähriger Herausgeber und Chefredakteur der ACADEMIA. Der Beitrag ist sein geringfügig adaptierter Gastkommentar in der April-Ausgabe der ACADEMIA