Kann man in Österreich die AHS-Matura im Fach Mathematik bestehen, ohne auch nur einen Tag den Matheunterricht der 7. oder 8. Klasse besucht zu haben?
Theoretisch ja. Zu diesem Schluss kommen zwei Fachdidaktiker aus Deutschland, Prof. Wolfgang Kühnel von der Universität Stuttgart und Prof. Hans-Jürgen Bandelt von der Universität Hamburg. Sie veröffentlichten in den aktuellen Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM), der seit 40 Jahren maßgeblichen Vereinigung von Mathematik-Didaktikern im deutschen Sprachraum, eine vernichtende Analyse der neuen österreichischen Reifeprüfung unter dem Titel: „Schöne neue Mathewelt der Zentralmatura 2015“ (Mitteilungen der GDM, Heft 100, S. 30-34).
Das, was unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Maturaaufgaben vergangenes Jahr vielen Praktikern ins Auge fiel, wird nun von unabhängiger wissenschaftlicher Seite bestätigt: Um zu bestehen, muss man viel weniger wissen und können als früher.
Kühnel und Bandelt untersuchten die Aufgaben aus dem Haupttermin 2014/15 und glichen sie mit den jeweiligen Lehrplananforderungen in Österreich sowie in Deutschland ab. Ihr Fazit: „Klar erkennbar ist der politische Wille, dass bereits mit sehr elementarer Mathematik (fast nur eine gewisse Alltagsmathematik) die Matura bestanden werden kann. Die Erhöhung der Abiturquote ist das offene wie heimliche Ziel.“ Das Niveau der neuen Mathe-Matura liege, so die Autoren, in etwa auf dem der in Deutschland verbreiteten „mittleren Reife“.
Betrachtet man die bereits absolvierten Maturaprüfungen (seit 2014 liegen einschließlich der Nebentermine fünf komplette Klausuren vor), fällt tatsächlich auf, dass ein großer Teil der Aufgaben, rund ein Viertel, sich vom Stoff her maximal auf dem Niveau der 9. Schulstufe bewegt. Insbesondere der für das Bestehen der Matura entscheidende Teil 1 weist überproportional viele Aufgaben auf, die mit Kenntnissen der 5. Klasse lösbar sind. Im Haupttermin 2014/15 hätten im Teil 1 gemäß Lehrplan 46%, im Jahr zuvor 38% der Aufgaben von 15-jährigen Schülern gelöst werden können.
Wer also die Grundrechnungsarten beherrscht, Fragen zu elementaren Zahlenmengen beantworten kann, simple Prozente oder das arithmetische Mittel (im Alltag auch „Durchschnitt“ genannt) berechnen kann und einfache algebraische Umformungen schafft, ist der Verleihung der allgemeinen Hochschulreife einen großen Schritt näher.
Da viele der Prüfungsinhalte bereits in der Unterstufe durchgenommen werden, ist es mir möglich, hin und wieder schon in der 4. Klasse Maturaaufgaben im Unterricht zu besprechen, was meist ungläubiges Staunen hervorruft. Vor zwei Jahren wäre das noch vollkommen undenkbar gewesen. Auf der anderen Seite sind bei der Zentralmatura bislang jene Aufgaben, die den Stoff der 7. und 8. Klasse, also Gebiete der höheren Mathematik überprüfen, in der Minderzahl.
Es ist höchst an der Zeit, diese dramatische Verschiebung bei den mathematischen Inhalten und den Anforderungen der Mathematikklausuren auf breiter Basis zu diskutieren. Es stellt sich nämlich die Frage, ob zentrale Prüfungen, die teilweise bloß mathematisches Alltagswissen abprüfen, eine geeignete Basis darstellen für das Studium von Fächern wie technische Physik, Elektrotechnik oder Wirtschaftsinformatik.
Die Autoren Kühnel und Bandelt kritisieren in ihrem Beitrag jedoch nicht nur das mathematische Niveau der österreichischen Maturaaufgaben, sondern auch den oftmals bloß vorgeschobenen Realitätsbezug. Das führe dann dazu, dass an sich simple Aufgaben – die oftmals als klassische Sachaufgaben in Unterstufenschulbüchern zu finden seien – „verkünstelt“ würden und dabei mitunter sogar außermathematisches Wissen (etwa Fußballregeln) vorausgesetzt werde.
Auch werde häufig mit unrealistischen Modellannahmen gearbeitet, damit ein Beispiel einerseits nach echter Anwendungsaufgabe aussehe, gleichzeitig aber aufgrund „schöner Zahlen“ von den Kandidaten bewältigt werden könne. Oder, so die Autoren, es werde mit Kanonen auf Spatzen geschossen, um einen anspruchsvolleren mathematischen Inhalt doch noch unterzubringen. So komme bei einem Teil 2-Beispiel vom Haupttermin 2014/15 die erst im Lehrplan der 8. Klasse verankerte Integralschreibweise vor, obwohl das Beispiel elementargeometrisch lösbar wäre.
Der Einsatz des Integrals geschehe also nicht aus mathematischer Notwendigkeit, sondern aufgrund des Zwangs, Inhalte üppig einzukleiden und Realitätsnähe zu suggerieren. In Wirklichkeit werde ein Kontext bemüht, für den die Integralrechnung gerade überflüssig sei. All das sieht dann ungemein anspruchsvoll aus, bildet für viele Schüler auch eine erhebliche Hürde, stellt sich bei näherer Betrachtung aber als mathematisch äußerst dürftig dar. Mehr noch: Da die Teilaufgaben streng unabhängig voneinander formuliert sein müssen, steht bei besagtem Beispiel die Lösung von Teilaufgabe (a) de facto implizit in Teilaufgabe (c).
Das süffisante Fazit von Kühnel und Bandelt: „höhere Mathematik für Dummies“!
Mit dem Problem der Scheinkontextualisierung hängt auch die große Textlastigkeit mancher Aufgaben zusammen, die eher einer Sprachübung als der Überprüfung mathematischer Kompetenzen gleichen. Mit den Worten von Kühnel und Bandelt: „Völlig elementare Dinge aus der Mittelstufe werden aufgebauscht zu Themen für die immer noch so genannte ‚Hochschulreife’. Dafür genügen die Standards bis etwa zum 9. Schuljahr“.
Warum aber – so könnte man einwenden – fielen die Maturaergebnisse letztes Jahr nicht viel besser aus als früher, wenn doch der Vorwurf der mathematischen Trivialisierung im Raum steht? Tatsächlich lag die Durchfallquote 2015 bei 10,5%, was wohl etwas weniger sein dürfte als in den Jahren davor; darüber fehlen allerdings statistische Daten.
Die Frage ist aber nicht: Ist die Matura nun leichter oder schwerer als früher? Die Frage müsste lauten: Entsprechen die geprüften mathematischen Inhalte dem Anspruch der gymnasialen Oberstufe, zur allgemeinen Hochschulreife zu führen? Die Autoren des GDM-Artikels dazu: „Hinsichtlich der Beurteilung der Zentralmatura 2015 wurde in der Presse ein Wiener Mathematikdidaktiker zitiert, der das Niveau als ‚angemessen’ ansieht […]. ‚Angemessen’ kann aber nur heißen in Bezug auf das, was an der Schule bis zur Matura tatsächlich noch unterrichtet wurde, was den Namen Mathematik verdient. Und das ist, wie auch in Deutschland, völlig unangemessen: Die Schulmathematik wird nur noch als ‚Grundbildung’ im Sinne von PISA & Co gesehen.“
Ich möchte das Gesagte mit meinen eigenen Beobachtungen aus der Praxis untermauern und um einige Punkte ergänzen: In der Tat ist die neue Matura für manche Schüler schwer. Doch die Schwierigkeit liegt nun ganz woanders als früher. Denn es ist ein Unterschied, ob eine Aufgabe aus fachlich-inhaltlichen Gründen anspruchsvoll ist oder ob die Schwierigkeit im Lösungsformat, in der Formulierung oder in der Tatsache begründet liegt, dass die meisten (Teil-) Aufgaben nur als richtig oder falsch gewertet werden dürfen.
Anders gesagt: Es kommt neuerdings weniger auf die Beherrschung oder das Verständnis mathematischer Verfahren und Theorien an als darauf, mit den neuen Aufgabenformaten geschickt umzugehen. Dazu gehört u.a.:
- aus langen Texten alles Unwichtige ausblenden zu können,
- bei Multiple Choice-Aufgaben kein Detail zu übersehen
- und aus z.T. sehr ähnlichen Antwortmöglichkeiten die falschen auszuschließen oder sich von einer mitunter ungeeigneten mathematischen Symbolik nicht in die Irre führen zu lassen, wie es vergangenes Jahr so manchem bei Aufgabe 3 im Teil 1 ergangen ist: Eine simple Summe von acht Werten wurde mit Hilfe des Skalarprodukts zweier Vektoren im achtdimensionalen Vektorraum definiert!
Die Kompliziertheit vieler Aufgabenstellungen führt also dazu, dass zwar der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben steigt, nicht aber das mathematische Niveau.
Was außerdem meist vergessen wird: Die sogenannten Kernkompetenzen, die für das Bestehen der schriftlichen Matura notwendig sind, bilden bloß eine Teilmenge des im Lehrplan verankerten Mathematikstoffs.
Der unterrichtende Lehrer steht also täglich vor folgendem Dilemma: Will er seine Schüler gut auf die Klausur vorbereiten, trainiert er mit ihnen vor allem die dafür vorgesehenen Inhalte und Aufgabenformate und vernachlässigt zwangsläufig die anderen Kapitel des Lehrplans. Viele fokussieren sich dabei sogar hauptsächlich auf die entscheidenden Teil 1-Aufgaben. „Teaching to the test“, lautet das treffende Schimpfwort.
Gleichzeitig muss der Lehrer den Schülern aber auch die Möglichkeit geben, bei der mündlichen Prüfung in Mathematik anzutreten. Das bedeutet, theoretisch müssen auch diejenigen Stoffgebiete unterrichtet und etwa bei Schularbeiten geprüft werden, die für den Großteil einer Klasse mit Sicherheit nicht Teil der Maturaprüfung sein werden, was zu einer täglichen Zerreißprobe wird. Zur Erinnerung: In der alten Maturaform galt der Kernstoff sowohl für die schriftliche als auch für die mündliche Prüfung; für Letztere musste der Kandidat zusätzlich ein Spezialgebiet vorbereiten.
Es ist peinlich und erfreulich zugleich, dass die Kritik an der Zentralmatura nun aus dem Ausland kommt. Peinlich, weil es das österreichische Bildungswesen in ein schlechtes Licht rückt, erfreulich, weil zu hoffen ist, dass endlich eine breite Diskussion beginnt und sich die Öffentlichkeit der Tragweite dieser kaum beachteten Revolution im Mathematikunterricht der Oberstufe bewusst wird.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin durchaus der Ansicht, dass zentrale oder teilzentrale Aufgabenstellungen einen Beitrag zur flächendeckenden Qualitätssicherung, vielleicht sogar -steigerung leisten können. Zu behaupten, die Lehrer wehrten sich gegen die Zentralmatura, weil damit eine objektive Überprüfung ihrer eigenen Leistungen einherginge, ist eine unangemessene Unterstellung. Alle, die sich um den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Österreich Sorgen machen, sollten sich aber gegen eine Trivialisierung des Mathematikunterrichts im Namen einer inhaltsarmen Kompetenzorientierung wehren.
Wie auch immer man dazu aber stehen mag, erschütternd freilich ist etwas anderes: Sowohl einem Mitglied der Projektgruppe von der Universität Klagenfurt als auch einem Angehörigen des Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung (BIFIE) wurde die Möglichkeit eingeräumt, in eben jener Ausgabe der GDM-„Mitteilungen“ auf die Kritikpunkte zu antworten. Kein Verantwortlicher war zu einer Stellungnahme bereit.
Tomas Kubelik, 1976 in der Slowakei geboren, wuchs in Stuttgart auf und studierte Germanistik und Mathematik. Kürzlich erschien im Projekte-Verlag Halle sein Buch „Genug gegendert! Eine Kritik der feministischen Sprache“, in dem er die Argumente der feministischen Sprachkritik überzeugend und allgemeinverständlich entkräftet.