Österreich hat wieder einmal eine Verbotsgesetz-Diskussion. Oder vielmehr, nachdem über das Verbotsgesetz nicht mehr direkt diskutiert zu werden pflegt, eine Diskussion, bei der es in Wahrheit um Sinn und Unsinn des Verbotsgesetzes geht: Eine Grazer Staatsanwältin hatte es gewagt, ein von einem grünen Politiker angestrengtes Ermittlungsverfahren wegen eines in der Zeitschrift „Aula“ erschienenen Textes einzustellen.
In diesem Text ging es um behauptete Verbrechen von Insassen des Konzentrationslagers Mauthausen nach deren Befreiung. Hierbei erregt vor allem die Begründung der Verfahrenseinstellung die Gemüter: Der Passus „Es ist nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte“ ist, für sich allein genommen, zweifellos unglücklich formuliert. Er suggeriert, dass eine Belästigung durch die befreiten KZ-Häftlinge objektiv bestanden habe.
Der von vielen Medien nicht mehr zitierte nachfolgende Satz reicht einen Beleg für die „Belästigung“ nach: „Da zu den Befreiten neben den überwiegend jüdischen Lagerinsassen, auch aufgrund von Gewalt- und Eigentumsdelikten in Mauthausen deponierte Häftlinge zählten, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass im Rahmen der Befreiung strafbare Handlungen (...) von Befreiten begangen wurden.“ Liest man das Wörtchen „auch“ in „kann auch nicht ausgeschlossen werden“ im Sinne von „außerdem“, scheint die „Belästigung“ allerdings nicht nur in den „strafbaren Handlungen“ zu liegen, sondern über diese hinauszugehen.
Alleine, wollte die Staatsanwältin dem Autor des von ihr auf seine strafrechtliche Relevanz untersuchten Beitrags denn inhaltlich beipflichten, wie dies viele nun in diese Zeilen hineinlesen? Aus der spezifischen Textgattung einer juristischen Entscheidung über eine etwaige Strafbarkeit ergibt sich in Wahrheit nur eine plausible Lesart des einleitenden „Es ist nachvollziehbar“. Nämlich: Was der Autor vorbringt, steht in der Möglichkeit, objektiv wahr sein zu können und stellt somit (ungeachtet des tatsächlichen Wahrheitsgehaltes) keine grob unsachliche Behauptung dar. Genau darauf nämlich, ob es sich um eine unsachliche, einseitige und für die Zielsetzungen des Nationalsozialismus propagandistisch vorteilhafte Darstellung der Ereignisse handle, galt es den Text in Hinblick auf die Judikatur zum Verbotsgesetz zu untersuchen.
Der Halbsatz „dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte“ ist demnach nicht objektsprachlich, sondern metasprachlich zu verstehen. Es handelt sich hierbei um keine direkte Aussage, sondern um die Beurteilung einer (von der Staatsanwältin zusammengefassten) Sequenz des zugrundeliegenden Textes. Dieses Vorgehen dürfte für die befasste Staatsanwältin so selbstverständlich gewesen sein, dass eine deutlichere Herausstellung dieses metasprachlichen Charakters nicht vorgenommen wurde.
Die Begründung der Verfahrenseinstellung wäre wohl umsichtiger ausgefallen, wäre sie nicht „bloß“ an den Autor des untersuchten Textes ergangen, der um eine ebensolche Begründung ersucht hatte. Was selten vorkommen mag und insofern zusätzlich zu erledigende Arbeit bedeutet haben dürfte. Dass die Begründung eine breite Öffentlichkeit erreicht, war wohl kaum zu erwarten, und dass ihr direkter Adressat der Autor des untersuchten Textes ist, dürfte umso mehr die Interpretation einer kaum verhohlenen Zustimmung nähren.
Unglücklich gelaufen, könnte man sagen. Die Begründung der Einstellung von vorgesetzter Stelle als „unfassbar und in sich menschenverachtend“ zu bezeichnen, scheint jedenfalls voreilig und allemal (justiz)politischer Schadensbegrenzung geschuldet. Geht es nach der sogenannten „Zivilgesellschaft“, sollen Ermittlungsverfahren nach dem Verbotsgesetz unter ständiger Aufsicht von Politik und Medienöffentlichkeit (also der „Zivilgesellschaft“ selbst) erfolgen. Beinahe jedes eingestellte Verfahren, beinahe jeder Freispruch gilt als „Justizskandal“, als stünde die Strafbarkeit einer Handlung schon fest.
Die eigentlich zu stellende Frage ist nicht die, wie eine derartige Einstellungsbegründung in Zukunft verhindert werden kann. Noch weniger kann es darum zu tun sein, dass es in Ermangelung einer auch von der „Zivilgesellschaft“ goutierten Einstellungsbegründung in ähnlich gelagerten Fällen gleich gar nicht mehr zu einer Verfahrenseinstellung kommt.
Die eigentlich zu stellende Frage ist – gerade auch angesichts der Reaktionen der „Zivilgesellschaft“ – eine andere: Sollen Demokratie und Rechtsstaat auf ein Verbrechen gegründet werden, dessen Andenken zu bewahren und dessen ständig heraufbeschworene angeblich drohende Wiederkehr zu verhindern als Staatsgründungsakt und alleroberster Staatsgrundsatz ausgegeben werden? Sollen Orte wie Mauthausen zu negativen „heiligen Orten“ werden, über die sowie über deren Insassen nichts auch nur im Ansatz Abweichendes gesagt werden dürfe (worüber die „Zivilgesellschaft“ mittels des Verbotsgesetzes zu wachen habe)? Ist ein KZ-Überlebender per se so etwas wie ein moderner Heiliger, mindestens aber ein Held der „Zivilgesellschaft“? Macht ihn die bloße Tatsache, ein Verbrechen überlebt zu haben, zu einer moralischen Instanz?
Mit der Gründung auf ein Verbrechen in den Fokus eines Verbrechens zu treten, heißt, sich dessen destruktiver „Energie“ auszusetzen und diese allzu leicht zu übernehmen. Genau dies – und nicht ein gehässig formulierter Aufsatz – ist brandgefährlich. Unter der Aura des Heiligen, Unsagbaren, Unantastbaren sind schon viele Verbrechen begangen worden. Wenn aber dies Unsagbare ein Verbrechen ist, wird die Sache nur subtiler.
Das Ansinnen, sich zum Gralshüter eines Andenkens aufzuschwingen und über dessen korrekte Auslegung zu wachen, muss als Hybris bezeichnet werden. Wer so denkt, setzt sich in eine absolute Identität mit dem Staat und unterläuft genau jene Vielfalt der Meinungen und Deutungen, die die „Zivilgesellschaft“ sich sonst auf deren Fahnen heftet. Das Andenken an das Verbrechen soll diese Vielfalt zwar sicherstellen, aber als Andenken an ein Verbrechen vermag es dies nicht.
Die Aura des Unsagbaren geht schon gegen die mannigfachen Aspekte des historischen Geschehens selbst. Wenn der Status des Überlebenden jede Kritik verbietet, darf außerhalb der etablierten Geschichtswissenschaft nicht mehr zur Sprache kommen, dass es KZ-Einweisungen auch wegen „profaner“ Verbrechen gab. Jene Enthistorisierung, die man Revisionisten vorwirft, besorgt sodann das Tabu selbst.
Wilfried Grießer ist Philosoph und Verfasser der Studie „Verurteilte Sprache. Zur Dialektik des politischen Strafrechts in Europa“ (Frankfurt / Main 2012).