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"Aussiedlung" war Ausplünderung und Vertreibung

Der ungarische Premier Viktor Orbán hielt vor wenigen Tagen in Wudersch (Budaörs) eine Gedankrede an die Vertreibung der davor in Ungarn lebenden Deutschen. Viele Vertriebene würden sich einmal auch von einem tschechischen Regierungschef eine solche Rede wünschen. (Auch die aus Polen vertriebenen Deutschen haben schon etliche ähnlich klingende Töne hören können.) Die wichtigsten Passagen der Orbán-Rede im Wortlaut:

Die 1940-er Jahre lassen die zusammenhängende Leidensgeschichte Ungarns vor unseren Augen erstehen. Besetzungen, Verschleppung und Vertreibung, einander folgende Waggons, Trauerzüge. Die Akzente, die Ziele, die Gründe und Motive mochten unterschiedlich sein, jedoch war die Konklusion unverändert. Als Ungarn besetzt wurde – ganz gleich ob vom Osten oder vom Westen aus –, das Ergebnis wurde unermessliches Leid.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeugt davon, dass wenn Ungarn seine Unabhängigkeit verlor, es dann seine eigenen Bürger – jene Menschen, zu deren Schutz und zur Bewahrung ihrer Werte das Land berufen gewesen wäre – es diese verstieß, ausplünderte, vertrieb und in eine extrem ausgelieferte Lage geraten ließ. Es ist eine Lehre für die Ungarn für alle Zeiten, der Ankunft einer derartigen Welt, in der ähnliche Verordnungen und Listen entstehen könnten, nicht die geringste Chance zu geben. Es ist eine Warnung für alle Zeiten, dass nur die starke Regierung eines souveränen Landes in der Lage ist, seine Staatsbürger der unterschiedlichsten Nationalität vor den äußeren Kräften und den die äußeren Kräfte bedienenden inneren Anhängern zu schützen.

Am 19. Januar 1946 verließ der erste Eisenbahnzug Ungarn, der unsere vertriebenen deutschen Landsleute nach Deutschland transportierte. Allein an einem einzigen Tag nahm man tausend Menschen mit. Bis Anfang Februar war Wudersch bereits vollkommen leer, und bald ereilte landesweit Hunderte von Siedlungen, in denen Schwaben – wie man die Ungarndeutschen in Ungarn nannte – lebten, ein ähnliches Schicksal.

Die offizielle Bezeichnung lautete Aussiedlung, doch dieses Wort hatte mit der Wahrheit nichts zu tun. Was Aussiedlung genannt wurde, bedeute die Ausplünderung und die Vertreibung der ungarischen Schwaben. Sie wurden ihrer Häuser und sie wurden ihrer Heimat beraubt. Von ihrem früheren Leben durften sie in die niedergebombten Städte Deutschlands so viel mitnehmen, wie in ein Bündel von 50 Kilogramm hineinpasste. Und nicht nur jene mussten ihr Zuhause verlassen, die während des Weltkriegs in die deutsche Armee rekrutiert worden waren. Um auf die Liste zu kommen, reichte es aus, wenn jemand sich selbst als Person deutscher Nationalität bezeichnete oder sich zwar als Ungar bekannte, aber das Deutsche seine Muttersprache war, und es reichte auch aus, wenn man über jemanden wusste, dass er Ungarn so sehr liebte, dass er niemals die kommunistische Partei wählen würde.

Vor siebzig Jahren ereignete sich in Ungarn und in zahlreichen anderen Ländern Europas eine als Aussiedlung getarnte Deportierung. Und es gab keine einzige nüchtern denkende verantwortliche Person – auch die Vertreter der Siegermächte mitinbegriffen – die sich dem entgegengestellt hätte. Dies waren Zeiten, in denen Europa der Verführung durch wahnsinnige Gedanken nicht widerstehen konnte. Statt des Widerstandes, statt sein christliches Selbst zu behalten, hat es sich ergeben. Es hat gleich zweimal kapituliert, nacheinander. Zuerst gab es der Verführung durch den Nationalsozialismus, dann der durch den internationalen Sozialismus nach. Es ist der traurige gemeinsame Nenner des National- und des internationalen Sozialismus, dass sie beide auf Grundlage des Prinzips der Kollektivschuld ganze Völker in Viehwaggons trieben.

Die Ungarndeutschen können bis auf den heutigen Tag eine Kultur die ihrige nennen, deren Fäden tief in das Gewebe der ungarischen Kultur eingeflochten sind. Wenn wir diese Fäden herauszögen, so würde das gesamte Gewebe zerfallen. Die ungarische schwäbische Gemeinschaft stellt einen organischen und unveräußerlichen Bestandteil der ungarischen Kultur dar. Wenn vor siebzig Jahren die Vertriebenen all das mitgenommen hätten, was die Ungarndeutschen oder Menschen deutscher Abstammung seit ihrer Ansiedlung für die ungarische Wirtschaft und Kultur getan hatten, dann wäre Ungarn heute bedeutend ärmer. Sie hätten zum Beispiel unsere erste nationale Literaturgeschichte – von Ferenc Toldy – mitnehmen können, unter anderem auch das Parlament – Imre Steindl – und das Gebäude des Kunsthistorischen Museums – Ödön Lechner – sowie einen bedeutenden Teil des ungarischen Druckwesens, Maschinenbaus und der Medizin.

Ungarn war einst die Heimat von mehr als einer halben Million von Familien, die auf ihre deutschen Wurzeln stolz sowie fleißig waren und auf ihren eigenen Füßen standen. Wir lebten über lange Jahrhunderte hinweg zusammen und zu Hunderttausenden liegen deutsche und ungarische Soldaten europaweit nebeneinander in der Erde. Die Sorgen und Mühen des Alltags haben wir gemeinsam gelöst, so wie wir auch Ungarn nach den Verwüstungen der Kriege gemeinsam wiederaufgebaut haben. Und wir haben viel voneinander gelernt.

Wir Ungarn haben von den schwäbischen Menschen zum Beispiel gelernt, das die tätige, fleißige Arbeit der einzig mögliche Weg zum Erreichen ehrlichen Wohlstandes ist. Die Ungarndeutschen haben über dieses gemeinsame Schicksal Zeugnis abgelegt, als sie sich unter der Fahne von Kossuth statt unter der Fahne mit dem Doppeladler aufreihten. Dies bekräftigten sie, als sie Schulter an Schulter mit den Ungarn an den Fronten des Ersten Weltkriegs kämpften. Diese Zusammengehörigkeit bekundeten sie auch 1941 bei der Volkszählung, als sie sich als Personen ungarischer Nationalität, aber deutscher Muttersprache bezeichneten. Und schließlich gaben sie ebendiesem Gefühl nach, als einige Jahre später viele von ihnen in die Armut, in das Elend, in die Erniedrigungen durch das kommunistische System heimkehrten.

Wir alle kennen die Geschichte der in alle Richtungen abfahrenden und wer weiß wo ankommenden Trauerzüge. Es hat Millionen von Menschenleben gekostet bis wir erkannt haben: Wir, die Nationen Europas, sind gemeinsam stark. Der entscheidende Grund für die Vereinigung Europas war gerade, dass derart entsetzliche Dinge nie wieder vorkommen dürfen. Die europäische Zusammenarbeit war gerade aus der Erkenntnis geboren worden, dass uns, europäische Nationen, viel mehr Dinge verbinden als trennen.

Wir alle können mit unseren eigenen Augen beobachten, wie die Sicherheit Europas von Tag zu Tag zerfällt, wie seine auf der christlichen Kultur basierende Lebensweise in Gefahr gerät. Heute stellt sich Europa nicht die Frage, ob sich die Nationen gegeneinander wenden, die Frage lautet vielmehr, ob es Europa noch geben wird, ob wir die europäische Lebensweise und Kultur werden verteidigen können, und was für einen Kontinent wir unseren Kindern als Erbe hinterlassen werden.

Die wichtigste Lehre aus der Geschichte der 1940-er Jahre, als die Straßen Europas immer wieder mit aus ihrem Zuhause vertriebenen, hungernden und tatsächlich um ihr Leben rennenden Völkern gefüllt waren, ist, dass man ein Verbrechen durch ein anderes Verbrechen nicht wiedergutmachen kann – ein vermeintliches Verbrechen durch ein anderes Verbrechen noch weniger, und ein angenommenes Verbrechen durch eine kollektive Bestrafung erst recht nicht. Wir können stolz darauf sein, dass die ungarischen Menschen nach zwanzig verworrenen, postkommunistischen Jahren des Übergangs endlich eindeutig für die bürgerliche Einrichtung votiert haben, und das Parlament endlich die erste demokratische bürgerliche Verfassung Ungarns vollenden konnte.

Die wichtigste tragende Säule der bürgerlichen Welt ist die Gerechtigkeit und Billigkeit, wir geben einem jeden das, was ihm zusteht. Aus diesem Grunde hat das Parlament im Jahre 2013 beschlossen, dass der 19. Januar der Gedenktag der Verschleppung und der Vertreibung der Ungarndeutschen sei. Als ein ewiges Memento für die nach Sibirien zur Zwangsarbeit verschleppten fünfundsechzigtausend Menschen und für die zur Aussiedlung verurteilten deutschen Familien. Das heutige Jubiläum ist aber nicht nur ein Gedenken, sondern auch ein Aufruf, all das nicht zu vergessen, was die Ungarndeutschen für Ungarn getan haben und bis auf den heutigen Tag tun.

Die ungarische Regierung unterstützt die Bewahrung der Identität und der Kultur der in unserer Heimat lebenden deutschen Mitbürger. Seit 2014 kann man sich im ungarischen Parlament auf Deutsch zu Worte melden, der Sprecher der Deutschen kann in seiner Muttersprache im Parlament reden. Es erfüllt uns mit Freude, dass sich in den vergangenen vier Jahren die Zahl der deutschen Schulen verfünffacht und die Anzahl der dort lernenden Schüler verdreifacht hat. Und wir sind auch darauf stolz, dass die Zahl derer, die sich als zur Gemeinschaft der Ungarndeutschen gehörig bekennen, heute schon beinahe Zweihunderttausend erreicht.

Die Leidensgeschichte der Ungarndeutschen soll uns daran erinnern, dass es das unveräußerliche Recht des Menschen ist, dort zu leben, wo er geboren worden ist, in der Kultur, in dem Land, in der Siedlung, die sein eigenes Zuhause ist. Und uns möge der Herrgott ausreichend Ausdauer und Geduld geben, damit wir Europa verteidigen und erhalten können, und er möge uns genügend Kraft geben, damit wir das Recht darauf, in der eigenen Heimat bleiben zu dürfen, auch außerhalb Europas durchsetzen können. Im Namen der ungarischen Regierung wünsche ich unseren in Ungarn lebenden deutschen Mitbürgern, dass das Andenken ihrer Ahnen bewahren und ihre Kinder als in der deutschen Kultur aufgewachsene gute Ungarn erziehen sollen.

Ehrfurcht den Opfern. Gebührende Erinnerung an die Leidenden. Ein Verneigen vor der Erinnerung an die Unschuldigen. Anerkennung und Ruhm jenen, die den in Not geratenen Ungarndeutschen geholfen hatten. Alles Gute unseren mit uns zusammenlebenden deutschen Mitbürgern!

Viktor Orban ist ungarischer Ministerpräsident.

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