Kaum aus der Schule, dem Kino oder der Dusche, sofort muss aufs Handy oder Smartphone geschaut werden. Wo befindet sich das Hightech-Teil? Wenn es nach der Regel des Nachwuchses ginge: in direktem Blickkontakt auch beim Essen oder den Hausaufgaben. Sie wollen sich mit Sohn oder Tochter beim Abholen von der Abend-Fete im Auto etwas unterhalten? Keine Chance, weil Ohrstecker plus Multi-Gerät jegliche Kommunikation vereiteln.
Smartphone, Laptop, Playstation: Eltern hasten vor Weihnachten durch die Elektronikabteilungen der vielen Anbieter, um die Wünsche ihrer Kinder zu erfüllen. So bringen die Monate November und Dezember für die meisten Händler den größten Teil des Jahresumsatzes. Das – häufig zur Konsumorgie mutierte – Weihnachtsfest wird sicher, ob in Wien, Klagenfurt, Innsbruck oder einem Alpendorf, reichlich neue Hightech-Mediengeräte in die Hände von Kindern und Jugendlichen gelangen lassen.
Aber Experten weisen immer eindringlicher darauf hin, dass schon jetzt eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen eine ausgeprägte Internetsucht entwickelt hat. Selbst Vorschulkinder hantieren mit diesen Geräten recht unkontrolliert vor sich hin. Viele Kinder sind pro Tag länger als vier Stunden online. Der Trend zeigt steil nach oben. Der Nachwuchs lebt im Online-Modus, schaut alle paar Minuten auf den Bildschirm, spielt stundenlang am Computer und findet dies ganz normal.
Nach 5 – 6 Stunden Medienabstinenz zittern die Hände von Kindern wie bei Drogensüchtigen
Nach einer Forsa-Studie reagiert mehr als jedes fünfte Kind ruhelos und gereizt auf Einschränkungen in der Onlinenutzung. Viele Kinder nehmen sich zwar vor, nur eine bestimmte Zeit online zu bleiben. Doch rund die Hälfte der Kinder hält diese Grenze nicht ein. Jedes zehnte Kind, so die Eltern, nutzt das Internet, um vor Problemen der wirklichen Welt zu fliehen. Mehr als 1.000 Eltern von 12- bis 17-Jährigen sind in der Studie zur Internetnutzung ihrer Kinder telefonisch befragt worden. Auffällig ist, dass zu viele Eltern ihren Kindern keine zeitlichen oder inhaltlichen Vorgaben für die Internetnutzung machen.
An den Wochenenden schnellt die Nutzungsdauer nach oben, da werden oft mehr als sechs Stunden pro Samstag oder Sonntag im Netz verbracht. Das internationale Zentralinstitut für Jugend- und Bildungsfernsehen empfiehlt, ab einem Alter von elf Jahren maximal eine Stunde am Tag vor Computer oder Spielekonsole zu sitzen, ab 14 Jahren 1,5 Stunden. Und wenn Eltern hier doch regelnd eingreifen wollen, schalten die Kinder auf schroffe Abwehr und zeigen deutliche Entzugserscheinungen, wenn ihnen der permanente Blick auf den Mini-Bildschirm fehlt. Dann wird flehend oder fordernd – mit zitternden Händen – versucht, „wenigstens für ein paar Minuten“ wieder online sein zu können.
Diverse Geräte einschalten und mit unterschiedlichsten Programme umgehen zu können, ist kein Beleg für Medienkompetenz
Aber mit Herz, Verstand und in Verantwortung den Ausschaltknopf zu betätigen, drückt echte Medien-Kompetenz aus. Das Problem vieler Eltern scheint zu sein, dass sie selbst den sinnvollen Umgang mit diesen Geräten nicht erlernt haben und/oder die offensichtlichen Gefahren nicht erkennen (wollen). Denn auch Erwachsene haben reichlich Probleme, zum rechten Zeitpunkt den Ausschalter von Medien-Geräten zu betätigen.
So rufen in den meisten Familien die Umgangsgewohnheiten des Nachwuchses mit diesen zum Status-Symbol geworden Geräten nach Regelungen. Aber was sollte geregelt werden? Geht es um Nutzungszeiten, Inhalte oder Einsatzfelder? Wo ist ein Maßstab zu finden? Wie kommen Vereinbarungen zustande? Und welche Konsequenz setzt ein, wenn der Nachwuchs die Vereinbarungen „vergessen“ hat oder einseitig für ungültig erklärt?
Eltern, die einen so genannten „liberalen Medienumgang“ mit ihrer Kinder präferieren, stehlen sich aus ihrer Verantwortung
Sich selbst als „liberal“ bezeichnende Eltern könnten sich verwundert die Augen reiben und fragen, was sie denn damit zu tun haben. Schließlich gehört der Einsatz von Hightech-Geräten zum modern Leben. Kinder bzw. Jugendliche müssen halt damit ihre Erfahrungen machen. So wächst Medienkompetenz. Da sollten wir unseren Kindern keine Vorschriften machen. Und die Zeiten autoritärer Ansagen sind nun mal vorbei. Das zukünftige Leben ist halt digital.
Da diese Haltung heute sehr weit verbreitet ist, hier eine kurze Verdeutlichung: Wer so den Begriff „Liberal“ zu nutzen sucht, zeigt nicht nur Inkompetenz im Ungang mit einem für die Menschheit wichtigen Begriff, sondern klammert gleichzeitig aus, dass Freiheit ohne Verantwortung schnell zu Egoismus, Willkür und (Selbst-)Zerstörung führt. Denn die – zu häufig auch in anderen Erziehung-Feldern – beobachtbare Grundhaltung: „Da halte ich mich raus, das soll halt jeder selber wissen, ich möchte keine Position beziehen“, ist im Grunde eine pädagogische Bankrotterklärung gegenüber den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen.
Kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, Kindern das Fahrradfahren auf Autobahnen oder Jugendlichen den Umgang mit gefährlichen Substanzen im Chemie-Labor per Selbstüberlassung erlernen zu lassen. Mit großer Gewissheit würde auch niemand zulassen, dass Kinder ständig einen „Flachmann mit Hochprozentigem“ in der Tasche oder in der Hand tragen würden. Aber beim Suchtmittel Smartphone wird auf Ignoranz geschaltet.
Kinder und Jugendliche benötigen keine abtauchenden Vätern und Müttern, sondern Anleitung, Begleitung und Rückmeldungen, ob diese nun korrigierend oder verstärkend sind. Und je mehr Gefahren im Umgang mit Dingen zu erwarten sind, je umfangreicher sind Einübungsfelder und Schutzmaßnahmen notwendig. Moderne Medien zu verteufeln ist genauso unsinnig, wie sie zu vergöttern. Der verantwortliche Umgang entscheidet darüber, ob eine Handlung verwerflich oder förderlich, schlecht oder gut ist, dem Zusammenleben dient oder dieses zerstört. Dies sind die Basis-Kriterien wirklicher Medien-Kompetenz.
Wer ständig online ist, verliert durch eine Vernetzung mit der halben Welt den Zugang zu sich selbst.
Eine ständige mediale Präsenz schadet nicht nur der Gesundheit der Kinder und Jugendlichen, sondern genauso den nach Jahren Erwachsenen, ob es dabei um reale Kontakte in Familie oder Freundeskreis geht. Zusätzlich machen die – hoffentlich verantwortlich handelnden – Eltern zu häufig einen fatalen Transferfehler: Sie schließen von der eigenen privaten und beruflichen Anwendung der Geräte pauschal darauf, dass Kinder sie genauso sinnhaft und dosiert nutzen wie sie.
In einem Interview äußert Uwe Buermann, ein pädagogisch-therapeutischer Medienberater: „Wenn wir das denken, dann versündigen wir uns an unseren Kindern, weil wir im einzelnen gar nicht genau wissen, was sie damit machen und was sie genau wollen. Medienkompetenz erwerben die Kinder nicht am Computer, sondern in der Familie und in der Schule, wo sie an das Wissen und die gesellschaftlichen Werte herangeführt werden. Nur so kommen sie in die Lage, Medien angemessen zu verwenden.“
In welchem Umfang Eltern aber in einer Mischung aus Begrenztheit und Trägheit manchen Medienkonsum-Missbrauch direkt – wenn auch unreflektiert – ermöglichen, wird an folgenden beispielhaften Geschehnissen deutlich. Da klagt Vater B innerhalb eines Beratungsgespräches, dass der Sohn bis mitten in der Nacht auf seinem Zimmer per Smartphone oder PC im Internet surfen würde. Alle Ermahnungen seinen bisher folgenlos geblieben. Da ich wusste, dass er Elektro-Ingenieur von Beruf war, fragte ich ihn leicht schmunzelnd: „Und weshalb hat das WLAN keinen Schalter?“ – Da erhielt eine Erzieherin, als sie in Reaktion auf ein kräftiges Pflaster zwischen Daumen und Zeigefinder die fünfjährige Kati fragte, was denn da passiert sei, die Antwort: „Papa und ich haben zu lange mit der Wii gespielt, da fing die Hand auf einmal zu bluten an.“
Auch Schulen mogeln sich zu oft aus ihrer Mitverantwortung beim Erwerb von echter Medienkompetenz
Keine oder halbherzige Regeln prägen meist den Umgang mit Handy, Smartphone und Co. auch in der Schule. Mal gibt es relativ klarere Regeln, welche aber im Alltag durch Ignoranz – der gebannte Blick unters Pult bei gleichzeitig aktivem Fingereinsatz bleibt ja sehenden Lehrkräften nicht verborgen – außer Funktion gesetzt werden. Das Handlungsmuster des Wegsehens belegt dann, dass der Einsatz des Multigerätes während des Unterrichts folgenlos bleibt. Existiert z.B. die klare Regeln, dass im Unterricht subversiv zum Einsatz gekommene Smartphones im Schulsekretariat für drei Tage eine Auszeit erhalten, stehen am Nachmittag die Eltern in der Schule, um das Gerät abzuholen, weil Schulen ja kein fremdes Eigentum konfiszieren dürfen und Wegschließen als unpädagogische Maßnahme diskreditiert wird. Meist ist dann die Folge, dass Sohn oder Tochter am nächsten Tag triumphierend erneut das Superteil im Unterricht zum Einsatz bringen.
Es gibt noch viel zu wenig Schulen, die mit den Eltern vertraglich vereinbarten, dass zum Unterrichtsbeginn alle Smartphones und weitere Wertgegenstände in ein persönliches Schließfach und erst nach dem Unterricht wieder dort heraus kommen. Dann wird der Unterricht nicht ständig gestört, die Konzentration liegt beim Lehrstoff und nicht in medialen Scheinwelten, in den Pausen finden wieder echte Sozial-Kontakte statt und Anzeigen im Sekretariat: „Mein Smartphone wurde durch XY beschädigt, mir wurden folgende Wertsachen geklaut“ gehen auf Null. Dazu der Leiter eines solchen – und recht großen – schulischen Bildungszentrums in Wien: „Wir haben uns viele zu lange mit kaum umsetzbaren Zwischenlösungen aufhalten lassen. Jetzt besteht Klarheit, die allen gut tut. Und das Thema Medienkompetenz ist bei uns eine Querschnittsaufgabe, nicht nur im Umfeld der Arbeit mit den Schul-Rechnern.“
„Kein Kind braucht ein Smartphone und sollte möglichst auch keines bekommen, weil das Gefahrenpotential und der Suchtfaktor zu groß ist.“
Ein Kinder-Handy für wichtige Telefonate ab der weiterführenden Schule reicht völlig aus. Für den Einsatz dieser Medien hier einige Eckpunkte, die mit Sohn oder Tochter – möglichst vor dem Erwerb – zu klären und schriftlich festzuhalten sind:
- Die Einsatzzeiten über Tag werden kontingentiert.
- Führen echte Sozialkontakte und Draußen-Spielzeiten ein Schattendasein, kommt das Mutigerät für einige Stunden ins Aus.
- In der Zeit von 20.00 / 22.00 Uhr bis nach dem Frühstück haben Handys & Co. Nachtruhe.
- Dazu kommen die Geräte in eine Ablage in der Garderobe.
- Falls sich ein PC im Kinderzimmer befindet – was keinesfalls empfehlenswert ist – wird das WLAN-System ebenfalls für die Nacht ausgeschaltet oder das Netzwerkkabel zum Smartphone gelegt.
- Bei Mahlzeiten, Familienfesten und Hausaufgaben erhalten Handys & Co. einen Platzverweis.
- Mit den Kindern wird gemeinsam ein Passwort für das Gerät festgelegt und geklärt, welche Aktionen, Seiten oder Nutzungsbereiche tabu sind, in welchem zeitlichen Umfang eine Nutzung pro Tag höchstens erfolgen soll und in welchen Abständen mit dem Kind die Nutzungs-Chronik durchgeschaut wird.
- Danach steht die Klärung von Konsequenzen an, was denn von Sohn oder Tochter eingebracht wird, wenn die Regel verletzt wurde.
Erst dann kommt das Gerät zum Einsatz. Hier ein Facebook-Praxis-Tipp der besonderen Art, wenn vorher keine Regeln geschaffen wurden: „Liebes Kind, diese Woche gibt es jeden Tag ein neues WLAN-Passwort. Es wird grundsätzlich erst dann eingeschaltet, wenn die Schularbeiten fertig sind. Heute steht zusätzlich an: Zimmer aufräumen, abspülen, den Müll raus bringen. Herzlichst deine Mama und Papa.“
Echte Medienkompetenz ist das Resultat eines verantwortlich und achtsam gelebten Beziehungs-Geschehens, wobei der Familie die größte Wirkkraft zukommt
Existiert ein gutes Miteinander zwischen Eltern und Kindern, führen solche Regelungen zu spürbaren Entspannungen. Das Kind wurde nicht mit Verboten zugeschüttet, sondern statt dessen die eigene Mündigkeit gefördert. Gibt es einen Nach-Regelungsbedarf, setzen sich die Beteiligten zusammen und klären diesen. So wächst in Freiheit und Verantwortung die Fähigkeit des Kompetenzerwerbs, weit über den Einsatz von Handy, Smartphone und Co. hinaus.
Und wenn der Nachwuchs zu vehement unter Verweis auf Alter und angebliche Freiheitsrechte jeglichen elterlichen Regelungsversuch zu boykottieren versucht, dann wird die Verhandlungs-Bereitschaft oder Regelungs-Einsicht recht schnell wachsen, wenn mal eine Zeit keine WLAN bzw. Netzwerk-Verbindungen im eigenen Zimmer existiert und das ach so geliebte zweite ICH, welches sich Smartphone nennt, in Schutz-Verwahrung genommen wird.
Hier noch einmal Uwe Buermann: „Echte Medien-Kompetenz, die wir uns alle von Herzen wünschen, beginnt mit Medien-Abstinenz – nicht im Sinne der Bewahrpädagogik, nein, im Sinne der Fähigkeitsbildung, die es braucht, um Medien sinnvoll zu nutzen.“
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Pädagoge sowie promovierter Erziehungswissenschaftler. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern.