Wenn ein hochkarätiger Jurist, Universitätsprofessor und langjähriges Mitglied des deutschen Verfassungsgerichtshofes, das „westliche Gesellschaftsmodell“ einer kritischen Würdigung unterzieht, würde es nicht verwundern, ein flammendes Plädoyer für noch mehr gesetzliche Reglementierungen und für noch mehr Macht dem Leviathan vorzufinden. Das ist hier nicht der Fall.
Udo Di Fabio benennt klar die Begrenztheit des Wissens politischer Eliten und die daraus resultierende Unmöglichkeit einer „Globalsteuerung“ aller Lebensbereiche. Er anerkennt die segensreiche Wirkung der „unsichtbaren Hand“ des Marktes und bricht wiederholt eine Lanze für ordoliberale Prinzipien und für die soziale Marktwirtschaft. Die Politik hat lediglich den Rahmen vorzugeben, die Gestaltung des Bildes obliegt dagegen den Mitgliedern der Gesellschaft.
In den beiden Dimensionen des Freiseins des Menschen – in seiner privaten Rolle und in der als Mitglied der Gemeinschaft – sieht der Autor den Wesenskern des westlichen Gesellschaftsentwurfs.
Er verweist auf die wohlstandsmehrende Wirkung von Kapitalismus und Globalisierung und benennt den fatalen Fehler, die oft vernichtende Kritik am Bestehenden, auf den verklärten Blick auf eine (sozialistische) Utopie zu gründen.
Di Fabio sieht die Gefahr, „der Westen“ (eine präzise Erläuterung dieses Begriffs bleibt der Autor schuldig) könnte seine „große Erzählung“, deren Grundlagen er in den Erkenntnissen der Aufklärung sieht, verlieren, ohne einen tragfähigen Ersatz dafür zu finden. Zwar gebe es im Hinblick auf individuelle Freiheit – wissenschaftlichen Fortschritt und Mehrung des materiellen Wohlstands – keine Alternative zur marktwirtschaftlich verfassten, liberalen Demokratie, doch reiche all das offensichtlich nicht aus, um die Gesellschaften im Innersten zusammenzuhalten.
Die Erklärung für das „Schwanken“ des Westens wird an den Reaktionen westlicher Regierungen auf die Wirtschaftskrise und den islamistischen Terror deutlich: Es handelt sich um einen kurzsichtigen Pragmatismus, der sich salopp über jeglichen (Rechts-)Grundsatz hinwegsetzt. Folge ist die „Erschütterung des Glaubens an die Rechtmäßigkeit politischer Herrschaft“. Kann aber das Recht durch die politischen Eliten – eine ausreichende Machtbasis vorausgesetzt – beliebig gebeugt und/oder gebrochen werden, ist damit die Erosion des Rechtsstaats programmiert und eingeleitet.
Die Frage, auf welche Weise die (demokratisch gewählten) politischen Eliten daran gehindert werden könnten, immer tiefer in sämtliche private Lebensbereiche hineinzuregieren – wie wir es gegenwärtig erleben – wird zwar aufgeworfen, aber nicht erschöpfend beantwortet. Di Fabios These, dass eine stabile Marktwirtschaft eine demokratische Ordnung zur Grundlage haben müsse, wird durch Beispiele im fernen Osten massiv herausgefordert. Es ist ja gerade „der Westen“, der wirtschaftlich stagniert und gesellschaftlich zu zerfallen droht (und zwar nicht erst seit Einsetzen der aktuellen Völkerwanderung), nicht aber dessen fernöstliche Herausforderer.
„Das normative und praktische Ordnungsgerüst des Westens muss wieder so gestaltet werden, dass das sich selbstentfaltende verantwortliche Leben nach dieser neuzeitlichen Prämisse nicht bestraft, sondern belohnt wird.“ Die für die Kurskorrektur erforderlichen Maßnahmen, werden allerdings nur vage angedeutet.
Wer nicht einmal mehr über die Beschaffenheit von Staubsaugern, Leuchtmitteln und Duschköpfen entscheiden darf, Arbeitsplätze und Wohnraum jedermann anzubieten, jegliche „Diskriminierung“ zu unterlassen und zwei Drittel seines Einkommens an den Fiskus abzuführen hat, verlernt die Gestaltung des eigenen Lebens. Welcher Politiker aber hätte jemals – freiwillig – Teile seiner Macht an den entmündigten Bürger zurückgegeben?
Buchbesprechung zu:
Schwankender Westen: Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss
Udo Di Fabio
Verlag C.H.Beck 2015
272 Seiten, gebunden
ISBN: 978 3 406 68391 6
19,95 Euro
Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.