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High Noon im Bobo-Saloon

Warum? Das frage ich mich im Zusammenhang mit der deutschen und österreichischen Einwanderungspolitik, der grassierenden Islamophilie, der europäischen Finanzpolitik, dem Genderismus und vielen anderen politisch-korrekten Auswüchsen sehr oft. Bisher habe ich noch keine befriedigende Antwort darauf gefunden, warum Europa gerade kulturellen Selbstmord mit Anlauf begeht. Ich bin kein Freund von (Welt)Verschwörungstheorien, bei denen am Ende immer die Amerikaner und/oder die Juden/Israelis die Fäden in Händen halten. Diese bei sehr linken wie sehr rechten Menschen so beliebten Theorien konnten mich noch nie überzeugen, zumal die vermuteten Motive und Ziele dieser dunklen Verschwörungen wenig überzeugend, zumeist sogar recht hanebüchen sind.

Warum also gibt sich ein hoch entwickelter und prosperierender Kontinent ohne jede Not einfach auf, öffnet seine Grenzen und lässt unkontrolliert Millionen von Menschen einwandern, die den abendländischen Werten, Traditionen und unserem Lebensstil ablehnend bis feindlich gegenüberstehen. Wenn politische Entscheidungen direkt in Richtung Konflikte, Gewalt, Terror, Verteilungskämpfe, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang führen, warum trifft man sie dann? Warum? Zwei Tage vor Weihnachten bin ich der Antwort zumindest etwas näher gekommen. Und sie ist viel verstörender als irgendwelche mysteriösen und phantasievollen Verschwörungstheorien, in denen geheime Mächte mit bösen Absichten die Geschicke der Welt lenken.

Ab und zu gehe ich ein Café beim Wiener Rochusmarkt. So auch kurz vor Weihnachten. In diesem Lokal verkehren der Wohngegend entsprechend, vor allem nicht mehr ganz junge Gutmenschen und Bobos. Ich habe damit kein Problem, ich bin tolerant und kann andere Meinungen und Lebensentwürfe durchaus akzeptieren. Ich stehe mit einem Bier an der Bar mit Menschen, die ich nur flüchtig kenne. Mein Barnachbar – Typ Althippie mit weich gekifftem Hirn – sagt, ich weiß nicht mehr wie er darauf gekommen ist, Religionen seien das Schlimmste, was der Menschheit passieren konnte. Religionen hätten sicher viel Leid verursacht, aber was das massenhafte Töten von Menschen betrifft, waren die kollektivistischen Ideologien doch wesentlich effizienter und erfolgreicher, gebe ich zu bedenken.

Meine Antwort scheint den Althippie irgendwie überfordert zu haben. Er sagt nichts mehr und widmet sich wieder seinem Bier. Stattdessen schaltet sich mein anderer Barnachbar – Mitte 40, macht irgendetwas mit Medien, Fernsehen glaube ich – ein und fragt, wie ich das gemeint hätte. Als anschauliches Beispiel nenne ich ihm den kommunistischen Massenmord in der Ukraine im Winter 1932/33. Josef Stalin hat in nur einem einzigen Winter in nur einem einzigen Land je nach Schätzung zwischen vier und über zehn Millionen Menschen ermordet. Dieser Genozid ist als Holodomor in die Geschichte eingegangen. Bis zu den Gutmenschen am Rochusmarkt hat sich das, auch wenn es schon über 80 Jahre zurückliegt, aber noch nicht durchgesprochen.

Wenig beeindruckt von mehreren Millionen ermordeten Ukrainern sagt mein Barnachbar, ich solle keine „Schauermärchen“ erzählen. Ich bin doch etwas erstaunt, wie lockerleicht ein ahistorischer Gutmensch mehre Millionen Tote so einfach beiseite wischt. Und außerdem…, versucht er die Kurve zu kriegen, seien ja Ideologien und Religionen ohnehin dasselbe. Aha. Ich versuche ihm den Unterschied zu erklären, doch das will er nicht hören und er stellt mir plötzlich in gewichtigem Ton, die offenbar für ihn in diesem Moment alles entscheidende Frage, ob ich böser Sozialismuskritiker (was sind schon Millionen von Toten) gegen den Sozialstaat sei, was ich mit einem knappen Ja beantworte.

Nun wird es wirklich skurril, und die Begebenheit hat sich tatsächlich genau so zugetragen. Der Medienmann sagt nun in etwas hysterischem Ton, ich hätte nun genau fünf Minuten lang die Gelegenheit, ihn von meiner politischen Unbedenklichkeit zu überzeugen, ansonsten solle ich das Lokale verlassen, da er mit Menschen wie mir nicht an einer Bar stehen könne. Ich bin wirklich baff. Mir fehlen, ob dieser ebenso dummen wie lächerlichen Selbstgerechtigkeit, dieser Borniertheit, dieser totalen Überschätzung der eigenen Bedeutung kurz die Worte und antworte dann, dass ich weder das eine noch das andere machen werde, beende das Gespräch und wende mich einer Bekannten zu. Er steht noch kurz da und begreift, dass ich ihn nicht ernst nehme und auch nicht vorhabe zu gehen. Er wechselt daraufhin mit zwei seiner Gesinnungsfreunde in einen anderen Teil des Lokals.

Es war ein sehr aufschlussreicher Abend. Ich habe den armen Mann offenbar völlig aus der Fassung gebracht. Er lebt dank seines Berufes, seines Bekanntenkreises und seiner guten Wohngegend seit mehreren Jahrzehnten in einer bunten Seifenblase. Er ist ein neosozialistischer Gutmensch durch und durch. Seine Überzeugungen und Ideen hat er nie ernsthaft verteidigen oder in Frage stellen müssen. Dazu gab es keinen Anlass. Die Realität, die vor allem in den vergangenen Jahren zunehmend unschöner geworden ist, nimmt er nur gefiltert wahr. Er sieht und hört nur die Nachrichten im Staatsfunk, besucht ausschließlich linke kulturelle Veranstaltungen, er liest den Standard, Zeit, Profil und Falter – okay das weiß ich nicht, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er die Weltwoche oder diese Internetseite hier liest, liegt nur ganz knapp über Null – und er verkehrt ausschließlich mit Menschen, die so denken wie er. Kurz, der Medienmann lässt sich seine politische Haltung mehrmals täglich absegnen und bestätigen. Andere Meinungen und Kritik an der von ihm vertretenen Politik dringen niemals ungefiltert, sondern immer nur richtig aufbereitet zu ihm durch.

Genauso verhält es sich mit den Folgen der multikulturellen Bereicherung, die sind bis in die linke Medienbranche und bis zum schicken Rochusmarkt noch nicht vorgedrungen. In dieser Phantasiewelt sind alle, die anderer Meinung sind und andere politische Ziele verfolgen, sprich nicht links sind, dumm, debil und/oder böse. Wie in einem Kinderbuch. Etwas anderes hat er in den vergangenen Jahrzehnten nie gelesen oder gehört.

Wenn dann ein solcher Bösewicht plötzlich leibhaftig vor ihm steht und kein redaktioneller oder künstlerischer Filter ihn mehr vor dem grellen Licht der Realität schützt, wenn sich die politisch-korrekten Kinderbuch-Klischees in Luft auflösen und der Feind sogar so intelligent und gebildet ist, dass der sich selbst als intellektuell einschätzende Medienmann nicht in der Lage ist, ihn argumentativ fertig zu machen, dann ist das offensichtlich ein ganz großer und tiefer Kulturschock.

Wenn der biedere linke Medienmann mit der ungefilterten Realität konfrontiert wird, auch wenn diese Konfrontation wie in diesem Fall äußerst harmlos ist, dann reagiert er hysterisch, trotzig, überzogen und panisch, versucht die Wirklichkeit mit aufgeregter Stimme und zugehaltenen Ohren zu verscheuchen, also mich aus dem Lokal zu werfen. Gleichzeitig erkennt er aber, wie macht- und hilflos er tatsächlich ist, denn um mich aus dem Lokal zu werfen, hätte er Gewalt anwenden müssen und dazu hatten ihm sowohl die Kräfte als auch die Eier gefehlt. Das was in Europa gerade passiert, lässt sich nicht mehr mit Geschwurbel, Mahnungen und Gefuchtel ändern. Ihr schafft das nicht.

Und weil der Medienmann mich, also die hässlicher Fratze der realen Welt, mit grimmigen Worten und bösem Blick nicht vertreiben konnte, hat er sich mit seinen Freunden zurückgezogen. Ich habe mit meiner Anwesenheit im Bobo-Café und meinen Aussagen die Grenzen seiner fragilen Scheinwelt verletzt. Im Stammlokal scheinen auch für Gutmenschen Grenzen sehr wichtig zu sein, blöd nur, wenn man sie nicht schützen kann. Wie wird solch ein Mensch reagieren, wenn er wirklich und brutal mit der neuen gesellschaftlichen Realität konfrontiert wird, für die er selbst mitverantwortlich ist?

Auf den Gedanken, sich mit mir und meinen Ansichten ernsthaft auseinanderzusetzen, ist er jedenfalls nicht gekommen. Nein, er ist nicht gewillt, seine Weltanschauung aufzugeben oder seine Einstellungen zu ändern. Denn dazu müsste er sich eingestehen, dass er sein ganzes Leben lang an die falschen Ideen geglaubt hat. Und dazu fehlt es dem Medienmann am Rochusmarkt offensichtlich an Größe. Weil er geistig und ideologisch völlig erstarrt ist, bleibt ihm als einzige Möglichkeit nur, seine bunte linke Scheinwelt solange es eben noch geht, aufrecht zu erhalten. Und jeder, der diese geistige Schrebergarten-Idylle stört, wird mit fuchtelnden Händen vertrieben, weil der Medienmann instinktiv weiß, dass er schon sehr bald seinen geliebten aber stetig schrumpfenden Schrebergarten aufgeben wird müssen.

Von dieser Sorte Mensch gibt es Hunderttausende in Österreich und Millionenen in Europa. Und sie stehen nicht nur im Bobo-Café an der Bar, sie sitzen vor allem auch in den Redaktionen, Ämtern, Gerichten, Ministerien, in den Schulen und Universitäten. Sie verfolgen keine großen Pläne und visionären Ziele. Sie werden auch zu nichts gezwungen. Sie sind einfach Kinder ihrer Zeit, brave Herdentiere, die nicht willens sind, nach jahrzehntelanger Treue ihren Leithammel zu wechseln. Sie haben als Jugendliche in den 1970/80/90er Jahren, als Europa noch von den Amerikanern gut beschützt, friedlich und wohlhabend war und im nahen Osten und in Afrika noch weit weniger Menschen als heute gelebt haben, an eine bessere und gerechtere Gesellschaft geglaubt. Das war zwar schon damals naiv, dumm und verlogen, aber zumindest nachvollziehbarer als heute.

Seither hat sich die globale Lage dramatisch verändert. Doch diese Menschen sind nicht in der Lage, darauf adäquat zu reagieren und flüchten sich stattdessen in ihre Scheinwelten, stecken die Köpfe in den Sand, was für viele auch deshalb so einfach ist, weil sie ohnehin keine Kinder und damit auch keinerlei Verantwortung haben. Dieses Verhalten ist nicht böse, gemein, durchtrieben, sondern nur dumm und traurig. Und dieses Verhalten beantwortet zumindest teilweise die Frage nach dem Warum.

Viele dieser Menschen sitzen an verantwortungsvollen Stellen. Genau das ist das Schlimme daran. Es gibt keinen Masterplan, keine finsteren Mächte, die diese Menschen für ihre bösen Absichten instrumentalisieren und manipulieren. Die Motive und Hintergründe für die rezenten Entwicklungen in Europa sind viel banaler und gleichzeitig viel komplexer als jede Verschwörungstheorie.

Werner Reichel ist Journalist und Autor aus Wien. Kürzlich sind seine neuen Bücher „Die Feinde der Freiheit“ und „Das Phänomen Conchita Wurst: Ein Hype und seine politischen Dimensionen“ erschienen.

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