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Bisweilen sind wir alle Opportunisten. Welcher Anhänger von Borussia-Dortmund würde sich schon in der Allianz-Arena inmitten von begeisterten Bayern-München-Fans schwarz-gelb outen? Oder welcher Austria-Fan in Wien würde im Sektor jubelnder Rapid-Anhänger sein violettes Gemüt zeigen? Welcher Mensch würde auf einer Autobahn-Raststation inmitten von 30 stämmigen Männern in Lederkluft und mit dem Helm in der Hand deutlich machen, dass er eigentlich für ein Verbot des Motorradfahrens als lebensgefährlichste und am meisten lärmende Fortbewegungsart ist? Kaum einer von uns würde das tun, sofern ihm seine persönliche Sicherheit wichtig ist.
Hunderte ähnliche Beispiele zeigen: Sehr oft lässt es Klugheit angeraten sein, etwas zu verschweigen, oder auch etwas Unrichtiges vorzuspiegeln, um einen Schaden oder eine Gefahr abzuwenden.
Freilich gibt es in der Geschichte auch erstaunliche Gegenbeispiele: So sind die Christen in den ersten drei Jahrhunderten zu Tausenden lieber in den Tod gegangen, als pro forma halt einmal den antiken Göttern und Kaisern zu opfern, wie es die Durchschnittseuropäer in ihrer heutigen Mentalität wohl fast alle problemlos tun würden. Aber auch heute lassen sich viele Christen zwischen Libyen, Syrien und Pakistan eher von fanatischen Muslims massakrieren, als dass sie pro forma so tun würden, ab nun an Allah und Mohammed zu glauben.
Sind wirklich nur noch tiefgläubige Menschen imstande und bereit, für ihre Überzeugung Nein zu opportunistischen Kompromissen zu sagen? Zum Glück nicht. Zum Glück gibt es auch im heutigen Europa auch ganz ohne religiösen Zusammenhang Menschen, die mutig und öffentlich zu ihren Überzeugungen, zur Wahrheit stehen. Freilich: Der mediale Zeitgeist ordnet sie gerne leichtfertig als Sonderlinge, als Michael Kohlhaas ein. Und: Es werden wohl immer weniger.
Dabei kann es keinen Zweifel geben: Gerade hochentwickelte Gesellschaften brauchen, bräuchten dringend Menschen, die nicht bereit sind, sich in wesentlichen Dingen zu verbiegen, auch wenn es ihnen schadet, auch wenn ihnen dadurch ein großer Nutzen entgeht. Denn sobald opportunistisches Verhalten Folgen für dritte, für die Gesellschaft hat, wird Opportunismus zum tödlichen Gift, egal ob er Folge von Feigheit, Geldgier oder der Hoffnung auf Wählermaximierung ist.
Zahllose Beispiele machen klar, wie wichtig das ist, wie wichtig das wäre:
Lange ließen sich die Beispiele fortsetzen, die alle die gefährlichen Folgen von opportunistischem Verhalten zeigen. Kurzfristig ist dieser zwar oft bequemer und angenehmer, aber langfristig führt er mit großer Gewissheit ins Verderben.
Sein Überhandnehmen ist Folge der Tatsache, dass wir in Europa seit 70 Jahren nur eine ständige Vermehrung des Wohlstandes kennengelernt haben. Die Menschen, die auch die brutalen Seiten der Weltgeschichte am eigenen Leib erfahren haben, sind inzwischen weitestgehend ausgestorben.
Diese 70 Jahre waren zwar für fast alle von uns viel besser im Vergleich zu den Jahrzehnten davor. Aber zunehmend sind auch die negativen Folgen einer in der Weltgeschichte noch nie dagewesen Periode von Frieden, Wohlstand und Sicherheit zu erkennen.
Damit stirbt nämlich das kollektive Wissen aus, dass Rechtsstaat und Demokratie nur mit mutigem Einsatz aller Staatsbürger überleben können. Wir vergessen, dass Meinungsfreiheit, Eigentum und eine unabhängige Justiz, die Gleiches gleich, aber Ungleiches ungleich behandelt, die weitaus wichtigsten Grundrechte unserer Gesellschaft sind (und nicht ein angebliches Asylrecht für sechs Milliarden Menschen auf der Welt in Mitteleuropa). Wir vergessen, dass ein Wohlfahrtssystem nur dann funktionieren kann, wenn jeder, der dazu imstande ist, sich wirklich anstrengt, wenn er etwas für die Allgemeinheit (also den Markt) leistet, wenn niemand unehrlich das Engagement der anderen ausnützt, wenn es Chancengleichheit, aber keine durch die politische Macht erzwungene Ergebnisgleichheit gibt.
Eine nüchterne Bilanz muss daher zu einem bitteren Schluss kommen: Europa ist heute weniger denn je in diesen 70 Jahren (oder in der ganzen bekannten Menschheitsgeschichte davor) von Vernunft, Mut, Wahrheitssuche, Leistung und Engagement geprägt. Statt dessen regieren Opportunismus und kurzsichtige Emotionalität.
Ich schreibe gelegentlich Beiträge für den deutschen Arbeitgeberverband (DeutscherArbeitgeberVerband.de).