Als Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts besorgte Politiker überlegten, wie man sicherstellen könnte, dass von europäischem Boden kein bewaffneter Konflikt mehr ausgehen werde, fanden sie ein – zum damaligen Zeitpunkt visionäres und auch revolutionäres – Konzept. Sie schlugen vor, die wichtigsten (kriegs-, aber auch friedens-) wirtschaftlichen Rohstoffe, also Kohle, Eisen und Stahl, nicht nur von Zollbelastungen zu befreien, sondern einer gemeinsamen, übernationalen Kontrolle zu unterstellen. Dieses Ziel wurde dann mit der Schaffung der "Montanunion" auch erreicht.
Die Ideen von Monnet, Schumann und den anderen wohlmeinenden Verantwortungsträgern waren zwar vor dem Hintergrund ihrer Zeit ehrenhaft und klug, sind aber heute längst überholt. Es kann wohl sein, dass die Montanunion als Vorläuferin der EWG und damit der heutigen „Europäischen Union“ tatsächlich mit ein Grund für die ungewöhnlich lange Friedensperiode in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Beweisbar ist diese, heute gängige Deutung allerdings kaum. Und nicht nur die Zeiten, auch die Welt und die Wirtschaftsstrukturen haben sich völlig verändert. Andere Probleme benötigten aber auch andere Lösungen, die in Brüssel nicht gefunden wurden, weil man gar nicht auf die Idee kam, danach zu suchen.
Reichlich seltsam gestaltete sich die weitere historische Entwicklung: Aus der Wirtschaftsgemeinschaft war dann fast unbemerkt die „Europäische Union" geworden. Die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten waren kaum gefragt worden, ob sie das denn auch wirklich so gewollt hätten. Die meisten hatten es wohl nicht einmal registriert. Und durch die (ebenfalls ohne Befragung der Bürger der Altmitgliedsstaaten) beschlossenen Erweiterungen der Gemeinschaft nach Süden und Osten stieg nicht nur ihr Finanzierungsbedarf, sondern drehte sich die politische Ausrichtung der Brüsseler Zentralstellen – langsam, aber sicher – immer weiter nach links, versteht sich, waren doch die neuen Mitglieder, zumindest zu dieser Zeit, durchwegs sozialistisch regiert.
Der aufgestaute Unmut der Bevölkerungen, die schließlich doch mitbekommen hatten, dass da etwas aus dem Ruder gelaufen war, entlud sich dann spät, aber doch und für viele unerwartet in den Volksabstimmungen über die sogenannte „Europäische Verfassung“. Diese wurde abgelehnt, in erste Linie aber nicht, weil sie es verdient hatte – auch dies war der Fall – sondern weil der „Union“ und ihren Repräsentanten mit all ihrer Überheblichkeit ein Denkzettel verpasst werden sollte. Die zum Teil panikartigen Reaktionen der damals führenden Politiker und Beamten zeigten, wie abgehoben sie offenbar schon waren, und dass sie mit einer solchen Reaktion überhaupt nicht mehr gerechnet hatten.
Nun war zum Ende des Jahres 2007, als den Völkern Europas die missglückte Verfassung in Gestalt der Mogelpackung "Vertrag von Lissabon" dann doch noch untergejubelt wurde, die Welt - verglichen mit ihrem heutigen Zustand - noch in (fast) paradiesischer Ordnung. Was folgte, war eine Kette von peinlichen Fehlentscheidungen und beschämendem Versagen seitens aller Organe, Verantwortungsebenen und Gremien der EU. Hier darf man keinen aus der Verantwortung entlassen:
Alle haben versagt, von den Mitgliedern des Rates über die der Kommission unter ihrem überforderten Vorsitzenden bis hinunter zu den "kleinen" Beamten, die mit der solchen Charakteren eigenen Sensibilität just zu der Zeit, als die Existenz des Euro auf der Kippe stand und auch die Glaubwürdigkeit der gesamten EU schon kräftig angeschlagen war, der Öffentlichkeit voll Stolz eine Verordnung über die europaweite Normierung von Heizthermen präsentierten.
Hatte man als leidgeprüfter Mitteleuropäer schon gedacht, dass es nach dem beschämend-lächerlichen, aber leider sehr teuren Hin und Her mit Griechenland wohl kaum noch ärger kommen könne, so wird man in den letzten Wochen (und für einen nach vorne offenen Zeitraum) eines schlechteren belehrt. Zahlreiche europäische Regierungen, die nun so tun, als wären sie tatsächlich von der durchaus vorhersehbaren Völkerwanderung überrumpelt worden, haben auf die grundsätzlichsten Rechte, vor allem aber Pflichten ihrer Staaten verzichtet und daher de facto abgedankt, darunter leider auch die österreichische. Die EU-Spitzenvertreter blicken nun nach jedem ihrer zahlreichen erfolglosen Treffen betreten in die Fernsehkameras und bringen keine vernünftigen drei Sätze heraus. Und wenn einmal einer etwas Kluges sagt, wie etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, kommen sofort andere, darunter leider auch der österreichische Bundeskanzler, die ihn als dumm oder faschistisch beschimpfen.
Ja, es ist leider so: die Skeptiker und Pessimisten hatten recht. Diese Union ist am Ende. Sie hat auf der gesamten Linie versagt, sie konnte kaum deutlicher unter Beweis stellen, dass sie in wirklich schwierigen Fragen, von echten Krisen wie der gegenwärtigen ganz zu schweigen, über keinerlei Lösungskompetenz verfügt. Die strukturellen Mängel, die das Brüsseler Konstrukt von allem Anfang an hatte, und die bei politischem Schönwetter noch überspielt werden konnten, werden jetzt umso deutlicher, und sie sind mit den bestehenden Strukturen nicht zu verändern, geschweige denn zu beheben.
Diesen negativen Aussichten stünde bei einer möglichst raschen Auflösung der Fehlkonstruktion als Positivum zumindest die Hoffnung gegenüber, dass nach Wegfall der Zentral- und Dezentralbürokratien ordentliche Einsparungen zu erwarten wären. Leider wird genau dies nicht der Fall sein: Die überflüssigen, aber gut vernetzten Insassen der Büropaläste werden es zu verhindern wissen, dass sie "aufgelöst" werden. Und so wird die Kommission in Brüssel auch in Zukunft weiter kommissionieren, der Gerichtshof in Luxemburg weiter judizieren, das Amt für amtliche Verlautbarungen weiterhin amtlich verlautbaren und so weiter. Die – mageren bis unbrauchbaren – Resultate dieser Scheintätigkeiten sind schon jetzt für die Praxis immer weniger interessant; ihre Beachtung wird mehr und mehr abnehmen, bis man sie letztlich völlig ignoriert. Diesem Zustand sind wir ja schon derzeit viel näher, als viele wahr haben wollen.
Was bleibt, ist unendlich viel wertloses bedrucktes Papier und eine sinnlos gewordene Europahauptstadt ohne Europa: Brüssel als sinnentleerter Themenpark, wo in hässlichen, aber aufwendig ausgestatteten postmodernen Bauten eine (teure) Reality-Show gespielt wird: „Wie beschäftige ich Tausende überflüssige, aber hoch bezahlte Mitarbeiter, ohne dass sie ernsthaften Schaden anrichten“. Außer verlorener Zeit und (unendlich viel) Spesen nichts gewesen. Schade; Europa hätte Besseres verdient.
Harald Rassl, geboren 1943, lebt in Wien. Er war mehr als 35 Jahre in der Kreditwirtschaft tätig.