Die Ereignisse vom 13.11. in Paris zeigen, dass nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo vom 7. 1. 2015 in Europa noch keine wirksame Terrorabwehr aufgebaut, ja nicht einmal in Angriff genommen werden konnte. Es besteht die Gefahr, dass auch nach diesem Anschlag nach einer Phase, in der jedermann seine Betroffenheit artikuliert und wilde Verwünschungen gegen den Terror ausstößt, bis zum nächsten Anschlag alles beim Alten bleiben wird. Der französische Präsident Hollande spricht zwar von einer Kriegserklärung durch den Islamischen Staat, lässt aber alle daraus abzuleitenden Maßnahmen offen.
Beim Kampf gegen den islamistischen Terror muss zunächst einmal nach der Definition „Krieg“ gefragt werden, damit klar wird, welches gesetzliche Regelwerk anzuwenden ist. Die International Law Association The Hague Conference (2010) spricht inzwischen nicht mehr von Krieg sondern von „armed conflict“. Sie definiert ihn aus zwei Charakteristika, die beide gegeben sein müssen:
„The Committee confirmed that at least two characteristics are found with respect to all armed conflict:
1.) The existence of organized armed groups
2.) Engaged in fighting of some intensity
In addition to these minimum criteria respecting all armed conflict, IHL[1] includes additional criteria so as to classify conflicts as either international or non-international in nature. The violence must be organized and intense – even between sovereign states before the otherwise prevailing peacetime rules are suspended. States, international organizations, courts, and other legitimate actors in the international legal system distinguish lower level or chaotic violence from armed conflict..[2]“
Daraus abgeleitet definiert Wikipedia den Krieg mit: „Krieg ist ein organisierter und unter Einsatz erheblicher Mittel mit Waffen und Gewalt ausgetragener Konflikt, an dem oft mehrere planmäßig vorgehende Kollektive beteiligt sind.
Die Existenz einer „organisierten bewaffneten Gruppe“ ist nach den vorliegenden Medienberichten einmal außer Zweifel zu stellen[3]. Beide Definitionen enthalten mit „some intensity“ und „Einsatz erheblicher Mittel“ eine nicht genauer definierte Größenordnung des Gewalteinsatzes. Die Anwendung des Kriegsvölkerrechtes anstelle der nationalen Strafgesetze hängt also von der Interpretation von Intensität und Erheblichkeit im Konflikt eingesetzter Mittel ab.
Die in den US-Streitkräften verwendete Definition gibt mit maximum violence ein Ausmaß des Konfliktes, das sowohl beim Anschlag gegen das World Trade Center 2001 als auch beim neuesten Anschlag in Paris klar erkannt werden kann. Bei beiden Ereignissen war auf Seite der terroristischen Angreifer das Ziel, die Opferzahlen unter der „feindlichen“ Zivilbevölkerung zu maximieren, für jedermann erkennbar.
Die Phrase „maximale Gewalt“ löst sofort Grauen aus und blockiert damit leicht die rationale Beschäftigung mit dieser Frage. Clausewitz postuliert in der Neuzeit erstmals im ersten Kapitel seines Buches „Vom Kriege“ die Tendenz des Krieges zum maximalen Gewalteinsatz.
Die Vorschrift der US-Army FM3-0 Operations ersetzt das problembehaftete Wort Gewalt durch combat power[4], womit der Sinn dieses Satzes sofort klar wird: Im Krieg hat jeder Kommandant bei der Bekämpfung einer gegnerischen Waffe/Truppe die maximale Kampfkraft, das heißt die wirkungsvollste Waffe/Munition in der größtmöglichen Anzahl zur Wirkung zu bringen, um den Auftrag unter minimalen eigenen Verlusten erfüllen zu können. Das versteht auch Clausewitz unter maximaler Gewalt.
Die USA erklären also den Einsatz maximaler Gewalt im Krieg zum Schutz eigener Soldaten nicht nur als erlaubt, sondern sogar als Norm und definieren ihn umgekehrt als Kriterium eines Krieges. Sie definieren daher den Krieg sogar restriktiver und genauer eingegrenzt als die Masse der europäischen Staaten. Damit tritt in einem solchen Konflikt das Kriegsvölkerrecht an die Stelle nationaler Strafgesetze, was die Internierung von gefangenen Kämpfern in Kriegsgefangenenlager auf Dauer des Konfliktes ohne Gerichtsverfahren erlaubt. Außerdem verstoßen Terroristen, die ohne Kennzeichnung als Kombattant vorwiegend gegen Zivilisten „kämpfen“, zweifach gegen dieses Recht und verlieren damit den Schutz desselben[5].
Die Kernaufgabe aller Streitkräfte ist unbestreitbar der Schutz der eigenen Gesellschaft, deren Teil sie aber in der Regel sind. Daraus leitet sich eine Hierarchie der Schutzbedürftigkeit ab, die den Soldaten ständig bewusst zu sein hat: Erste Priorität im Schutz hat die eigene Zivilbevölkerung, zweite der eigene Soldat und dritte aus dem Kriegsvölkerrecht abgeleitet der feindliche Soldat, der gleichzeitig Ziel der eigenen Waffenwirkung ist. Die Zivilbevölkerung des Feindlandes ist vom Kriegsvölkerrecht ebenfalls geschützt, muss aber hinter den eigenen Soldaten zurückstehen, weil letztere eigene Staatsbürger sind und die Erhaltung der eigenen Kampfkraft zur Gewinnung des Krieges Vorrang erzwingt. Sie darf nicht bekämpft werden, steht also in der Hierarchie der Schutzbedürftigkeit über den feindlichen Soldaten. Verluste in dieser Personengruppe dürfen zum Schutz der eigenen Soldaten in geringstmöglichem Ausmaß in Kauf genommen werden. Diese Gruppe ist also zwischen eigenen Soldaten und Feindsoldaten einzuordnen.
Kompliziert wird diese Einteilung bei einem Krieg im eigenen Land oder bei Einsätzen im Ausland zum Schutz der dortigen Bevölkerung. Beim Kampf im eigenen Land hat die eigene Zivilbevölkerung Vorrang, was bedeutet, dass in bewohntem Gelände mit minimaler Gewalt zu kämpfen ist. Der Soldat hat dann also dieselben Restriktionen zu befolgen, wie ein Polizist, was einen Einsatz gegen einen mit maximaler Gewalt kämpfenden Gegner wohl nicht besonders erfolgversprechend aussehen lässt. Angesichts der Waffenwirkung moderner Waffen würde ich einen militärischen Einsatz im eigenen Land ohne vorherige Evakuierung der Zivilbevölkerung eher ausschließen. Die aktuellen Bilder und Videos aus Syrien weisen dies wohl nachdrücklich nach.
Militärische Einsätze mit minimaler Gewaltanwendung stellen wesentlich höhere Anforderungen an die Ausbildung. Nicht umsonst dauert die Ausbildung eines Polizisten rund 2 Jahre. Bei Soldaten schätzt man sechs Monate Ausbildung an wesentlich komplexeren Waffensystemen zum Einsatz mit maximalen Gewalteinsatz als ausreichend und möchte diese dann möglicherweise ohne entsprechende Ausbildung in Einsätze mit minimalem Gewalteinsatz schicken.
Wenn militärische Einheiten in das Ausland zum Schutz der dortigen Bevölkerung entsandt werden, tritt diese in denselben Schutzgrad wie die eigene Bevölkerung, hat also Vorrang vor dem Schutz eigener Soldaten. Mit gepressten Wehrpflichtigen ist diese Umkehr der Priorität moralisch einfach nicht zu verantworten. Ein solcher Einsatz sollte Freiwilligen vorbehalten sein.
Sollten in einem Krieg einer Partei der maximale Gewalteinsatz verwehrt sein, dem Gegner aber nicht, so sind die Aussichten, diesen Krieg zu gewinnen, jedenfalls minimal. Die USA haben dies in Vietnam leidvoll erfahren. Die Verteidigung im eigenen Land kämpft vorwiegend mit dieser Einschränkung. Auch wenn die Bevölkerung evakuiert sein sollte, wird ihr zurückgelassenes Eigentum vom Gegner genutzt werden. Schon in der europäischen Antike wusste man, dass man auch im Fall eines reinen Verteidigungskrieges so rasch wie möglich den Kampf in das Land des Gegners tragen müsse, was aber keineswegs als Rechtfertigung für Angriffskriege benutzt werden darf. Wenn man sich die Lage Israels vergegenwärtigt, das selbst nicht breiter als die Reichweite mittlerer Artillerie und dabei dicht bevölkert ist, im Vorfeld aber vorwiegend unbewohnte Wüsten aufweist, ist schnell klar, dass die israelische Strategie auch als Reagierender jedenfalls offensiv sein muss.
Die USA betrachten den Kampf gegen den radikalen Islam seit dem 11.9.2001 genau wegen des auf Seiten der Angreifer erkennbaren maximalen Gewalteinsatz als Krieg, haben ihn folgerichtig in die Länder des Nahen Osten getragen und ihrer eigenen Bevölkerung damit bis heute größere Verluste erspart. Die im Irak erbrachten Opfer von rund 3.000 Mann[6] betrafen fast ausschließlich die Streitkräfte, deren Aufgabe aber der Schutz der eigenen Bevölkerung bildet. Europa hat den Kampf gegen den Terrorismus nie als Krieg, sondern als Verbrechensbekämpfung gesehen und dementsprechend im eigenen Land mit den Sicherheitskräften unter minimalem Gewalteinsatz geführt. In einer derartigen Strategie hat immer der Terrorist das erste Wort.
Erst bei Vorliegen einer Straftat darf der Staat mit seiner Exekutive ins Spiel treten. Wie der vorliegende Fall nachweist, war die Mehrzahl der Terroristen den Sicherheitsbehörden bereits einschlägig bekannt und mindestens zeitweise unter Beobachtung. Einschreiten darf die Exekutive erst bei begründetem Verdacht auf eine konkrete Straftat. Die Exekutive und Nachrichtendienste haben vermutlich nicht versagt, man wusste es spätestens seit der Verhaftung eines Waffenkuriers auf der Autobahn in Bayern.
Der Rechtsstaat kann aber nicht anders handeln und das ist gut so. Die Opfer hatte und hat allerdings dabei die eigene Zivilbevölkerung zu tragen, im Kriegsfall tragen sie fast ausschließlich die Streitkräfte, wenn man ihnen die Wahl des Kampffeldes überlässt, wie dies im Irak geschah. Genau das ist ihre Aufgabe. Damals war leicht erkennbar, wie alle potentiellen Selbstmordattentäter in den Irak strömten, um den Feind im Herzen des Islams anzugreifen. Die USA wurden in Europa für ihren Angriff auf den Irak von der Warte eigener höherer Moral gesehen und zumindest in der deutschen und österreichischen Öffentlichkeit dafür öffentlich angegriffen. Wären heute noch 1-2 US-Divisionen an Bodentruppen im Irak, wäre angesichts ihrer waffentechnischen Überlegenheit der Spuk des IS mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits längst beendet. Nicht der angriffsweise Eintritt der USA in diesen Raum hat ihn destabilisiert, sondern ihr Abzug.
Eine Änderung der europäischen Strategie zur Bekämpfung des islamischen Terrors ist also ein Gebot der Fairness gegenüber der Bevölkerung. Präsident Hollandes Erklärung, die Anschläge in Paris seien eine Kriegserklärung, müsste zu einem massiven Einsatz von europäischen Erdstreitkräften in Syrien und im Irak explizit gegen den islamischen Staat und nicht zum Schutz der dortigen Bevölkerung führen. Mit Luftschlägen alleine und/oder minimaler Gewaltanwendung wird erfahrungsgemäß kein Krieg zu gewinnen sein. Bleibt der Einsatz von Erdstreitkräften aus, hat Hollande nur seiner eigenen Bevölkerung gegenüber Stärke demonstrieren wollen, die bisherige Strategie wird prolongiert, die europäische Bevölkerung wird weiterhin mit dem Terror leben und sterben müssen.
Reichen die Anschläge aus, um Europa klar zu machen, dass es sich im Kriegszustand mit einer armed group und fighting of some intensity befindet?
[1] International humanitarian law tritt zunehmend mehr an die Stelle des alten Kriegsvölkerrechtes.
[4] Siehe hiezu https://fas.org/irp/doddir/army/fm3-0.pdf
[5] Siehe hiezu http://kms2.isn.ethz.ch/serviceengine/Files/ESDP/22777/ichaptersection_singledocument/81b620a6-7a92-4aa0-a189-a0b7c0eefa3d/en/3_Zimmermann.pdf.
[6] Mann war vor der Genderisierung der militärischen Sprache der kurze Fachbegriff für Personen und nicht ausschließlich für Männer, was ja der grammatikalisch korrekte Plural von Mann wäre.
Rupert Wenger war Offizier des Bundesheeres als Kompanie- und Bataillonskommandant in der Panzertruppe und später Analyst in einer Dienststelle des Verteidigungsministeriums.