Zehn Thesen zur Migrationspolitik

Auszug aus dem soeben neu erschienenen Buch „Herausforderung Migration“ (Streitschriften des Leykam-Verlags), in dem sich der prominente Journalist in sehr präziser Art mit der zentralen Herausforderung unserer Gesellschaft befasst.

Winkler hat darin insbesondere folgende zehn Thesen herausgearbeitet:

These eins: Migration ist kein Verbrechen

„Migration ist kein Verbrechen“, lautet eine der eingängigen Formeln, die mit großem moralischem Pathos vorgebracht werden, aber irreführend sind und eine absichtliche Unterstellung enthalten. Gemeint damit ist, dass jeder überall wo er will „auf die Suche nach dem Glück“ gehen kann, wie es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verheißt. Migration ist tatsächlich kein Verbrechen, es ist aber auch kein Verbrechen, Migranten abzuweisen, wenn man sie aus guten Gründen nicht aufnehmen will. Europa braucht nicht die Rettungsstation für alle „Verdammten dieser Erde“ zu sein, wie es kürzlich ein bekannter deutscher Zeitungskommentator gefordert hat.

These zwei: Weder Illusionen noch ein schlechtes Gewissen sind eine gute Grundlage für Politik.

Die Kriege und Umbrüche im „weiteren Nahen Osten“ sind nicht nur die Folge westlicher Interventionen, wenngleich sie dadurch mit ausgelöst wurden. Die Rückständigkeit und die zivilisatorische Krise der islamischen Welt können ebenso wenig Europa angelastet werden wie die machtpolitische Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Der Bürgerkrieg in Syrien, die kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak und der Terror des IS sind von arabischen Nachbarn angestachelt und finanziert worden, denen die beiden einzigen säkulären Regime in der Region ein Dorn im Auge waren. Auch für die postkoloniale Fehlentwicklung Afrikas wird man die Verantwortung bei den einheimischen Eliten suchen müssen. Der europäische Kolonialismus kann keine unbegrenzte Dauerschuld Europas begründen. Jetzt „Millionen Menschen“ nach Europa zu holen, um sie aus dem Elend zu befreien, wie es der Vertreter einer kirchlichen NGO in Deutschland verlangt, ist illusionär. Weder schlechtes Gewissen noch Illusionen sind aber eine gute Wegweisung für politisches Handeln.

These drei: Die neue Völkerwanderung ist nicht mit den Flüchtlingswellen der Vergangenheit zu vergleichen.

Die Menschen, die jetzt an die Grenzen und Küsten Europas branden, haben aus sehr verschiedenen Gründen ihre Heimat verlassen: Materielle Not im subsaharischen Afrika, Krieg und Bürgerkrieg in Syrien und im Irak, Völkermord in den Ursprungsländern des Christentums, Chaos und Unsicherheit in zerfallenden Staaten am Horn von Afrika und im Sudan. Angesichts der Migration und Fluchtbewegung über das Mittelmeer und den Balkan erinnern nun manche daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Vertreibung von elf Millionen Deutschen aus Osteuropa und später nach dem Ungarn-Aufstand und während der Jugoslawien-Kriege viele größere Flüchtlingsströme über Europa gezogen sind als heute. Die Aufregung sei also übertrieben, soll das heißen.

Warum gibt es dann trotzdem die Ängste in Europa, die es bei früheren Fluchtbewegungen nicht gab? Der Grund dafür liegt darin, dass damals die Zahl der Flüchtlinge überschaubar war und die Menschen aus demselben Kulturkreis kamen. Von den Flüchtlingen aus Ungarn seinerzeit ist nur ein kleiner Teil in Österreich geblieben. Jetzt dagegen erscheint die Zahl potentieller Migranten unübersehbar und alle, die kommen, werden auch bleiben. Das nährt die Sorgen vor Überfremdung, die man nicht mit moralischen Appellen entkräften kann.

These vier: Es gibt kein Menschenrecht auf Leben in Europa.

Es gibt ein Menschenrecht auf Schutz vor Verfolgung, das international definiert ist und Asylrecht heißt. Es gibt aber kein Menschenrecht auf Leben in einem bestimmten Land, das man sich aussucht oder in das man verschlagen wird. Auch arm zu sein bedeutet kein Recht auf Emigration in ein Land seiner Wahl, das dann die Pflicht hätte, einen aufzunehmen. Nach europäischem zivilisatorischen Standard ist es eine moralische Schuldigkeit der Reicheren, den Ärmeren zu helfen. Diese kann auf sehr verschiedene Weise erfüllt werden, am besten dadurch, dass man dafür sorgt, dass die Armen ihre Heimat nicht verlassen müssen und dort zu einem erträglichen Leben und Wohlstand kommen.

These fünf: Wer die Grenzen für alle öffnen will, gefährdet das Asylrecht

Asyl zu gewähren liegt prinzipiell nicht in der Verfügung eines Staates, wiewohl alle Bemühungen erlaubt sein müssen, den Missbrauch dieses Rechts für Immigration aus ökonomischen Gründen zu unterbinden. Das ist gerade deshalb notwendig, um das Asylrecht als Rettung in letzter Not zu erhalten. Es systematisch zu einer Schiene der Einwanderung in den Arbeitsmarkt oder das Sozialsystem eines Landes zu machen, würde es letztlich genau für jene unwirksam machen, die es zum Überleben brauchen. Deshalb muss man die Kategorien von irregulärer Armutsmigration, Aufnahme und Ansiedlung von Kriegsflüchtlingen und Asyl für unmittelbar Verfolgte weiterhin auseinanderhalten. Wer das beliebte Wort „niemand ist illegal“ in den Mund nimmt und womöglich gar danach handeln wollte, weiß nicht oder gibt nicht zu, dass er damit letztendlich das Asylrecht in Frage stellt und gefährdet.

Um Asylwerber von Migranten aus ökonomischen Gründen auseinanderzuhalten muss Europa die strategischen Ansätze für seine Immigrationspolitik in Afrika suchen. Man wird etwa gemeinsame Auffanglager in Niger, der Drehscheibe für die Migration aus Westafrika, oder noch näher an den Ausgangsländern einrichten. Dort müssen auch die ersten Prüfungen für ein Asylverfahren stattfinden. Wer Verfolgung und Diskriminierung zuhause nicht nachweisen kann und auch nicht vor einem Krieg fliehen musste, wird von einem Asylverfahren in allen EU-Ländern ausgeschlossen.

An diesen Orten könnte man auch jene finden, die Qualifikationen haben, die am europäischen Arbeitsmarkt gesucht sind. Wer weder für Asyl noch für Arbeit in Frage kommt, muss in seine Heimat zurückkehren. Ein solches Modell setzt freilich eine gemeinsame europäische Asylpolitik voraus, die es nicht gibt, und die Kooperation mit den Herkunfts- noch mehr aber den Transitländern Niger und Libyen.

These sechs: Unter dem Druck der Realität fallen die Tabus

Begleitet von der heftigen Kritik durch Organisationen, die mehr an politischer Agitation als konkreter Hilfe für Flüchtlinge interessiert sind, hat Österreich 500 Asylwerber in die Slowakei gebracht. Dort sollen sie auf ihre Verfahren warten, die aber in Österreich stattfinden werden, wie es vom Dublin-Abkommen (derzeit in seiner Fassung Nr. III) vorgehen ist. Damit ist ein Tabu gebrochen worden, denn angeblich ist das Leben für einen Flüchtling nur in Österreich zumutbar.

Auch ein anderes Tabu ist dabei gefallen: Dass Geld keine Rolle spielen dürfe, wo es doch um Humanität geht. Der Vorschlag, jenen EU-Ländern finanzielle Abgeltungen zuzusagen, die Flüchtlinge nehmen wollen, ist nicht neu und er ist auch nicht unsittlich. Jetzt wird er gerade in der Slowakei umgesetzt, aber eben nicht durch die EU, sondern durch Österreich, das unter dem Strich finanziell besser aussteigt. Die Slowakei verdient ebenfalls daran. Warum also nicht?

These sieben: Österreich muss seine Attraktivität verringern, um die Einwanderung in den Sozialstaat zu verhindern

Österreich ist unter Migranten besonders beliebt, weil es außer Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit auch Sozialleistungen bietet, wie kaum ein anderes europäisches Land. Diese können unter Umständen höher sein, als Einkommen vergleichbarer Personen in einem Arbeitsverhältnis. Das hat sich weltweit herumgesprochen.

Ein positiver Asylbescheid geht oftmals mit einem Einstieg in das Sozialsystem einher“, stellt eine Expertengruppe im Außen- und Integrationsministerium fest. Anerkannte Asylanten haben unmittelbar Zugang zur Mindestsicherung. Es gibt Beispiele, dass diese staatliche Transferleistung nicht nur für das Leben in Österreich und für den eigenen Integrationsweg aufgewendet wird, sondern auch für Rücküberweisungen an die Familie daheim. Das mag aus Sicht der Empfänger verständlich sein, weil sie häufig unter hohem Erwartungsdruck der Daheimgebliebenen stehen, kann aber nicht im Sinne des Systems sein.

Aus rechtlicher Sicht ist unbestritten, dass anerkannte Flüchtlinge österreichischen Staatsbürgern gleichzustellen sind. „Ziel des Bezugs von Sozialleistungen sollte nur eine temporäre Überbrückung, nicht aber eine transferabhängige Existenz sein“, formulieren die Experten: Sie schlagen daher vor, Sachleistungen statt Geldtransfers einzuführen und dadurch einen Druck auf die Empfänger herzustellen, selbst etwas für ihren Aufstieg zu tun.

These acht: Abgelehnte Asylwerber müssen konsequenter abgeschoben werden als bisher.

Ohne „Dublin“ geht es vorläufig nicht – mit Dublin aber auch nicht. Wer keinen Asylstatus erhält, bzw. dessen Antrag offensichtlich unbegründet ist, muss – theoretisch – Österreich verlassen. Wenn er nicht in sein Heimatland gebracht werden kann, muss ihn jenes Land nehmen, aus dem er nach Österreich gekommen ist, das ihn möglicherweise dorthin zurückschickt, wo er zuerst EU-Territorium betreten hat. So ist es in der Dublin-Verordnung vorgesehen. Das wird aber oft dadurch unmöglich gemacht, dass Migranten verschleiern, über welchen Weg sie gekommen sind.

These neun: Wird die EU-Außengrenze nicht gestärkt, werden die Staatsgrenzen wiederkehren.

Das Bild von der „Festung Europa“, das sich jetzt kaum noch jemand in den Mund zu nehmen traut, sollte jede Bemühung, die Außengrenzen der EU gegen illegale Immigranten zu sichern, schlecht machen. Die Kontrolle und Aufrechterhaltung der Außengrenzen ist aber die Garantie für die innere Bewegungsfreiheit in der EU. Wenn es Europa nicht gelingt, seine Außengrenzen zu sichern, werden die alten Staatsgrenzen von selbst wiederkehren. Versuche, das Schengen-System zeitweise außer Kraft zu setzen, hat es schon gegeben und sie werden häufiger werden, wenn Staaten sich nicht anders zu helfen wissen.

Wir haben uns daran gewöhnt, an den ehemaligen Grenzstationen in Spielfeld und Nickelsdorf, bei Thörl-Maglern und am Walserberg, aber auch zwischen Ungarn und der Slowakei achtlos vorbeizufahren, die wie im Niemandsland verrotten. In Spielfeld lässt die Lächerlichkeit der „künstlerischen“ Gestaltung der Station sie als besonders überholt erscheinen. Nun werden wir plötzlich gewahr, dass sie noch immer da sind und nie weggeräumt wurden, als ob sie darauf warteten, wieder in Betrieb genommen zu werden.

These zehn: Die Migration muss an ihrem Ausgangspunkt bekämpft werden.

Es gehört mittlerweile zum allgemeinen Bewusstseinsstand, dass man das Problem der Armutsmigration aus Afrika nicht in Europa lösen kann, sondern es an seinem Ausgangspunkt bekämpfen muss. Solange die Chancen anderswo größer zu sein scheinen als das Risiko und der Preis, der zu zahlen ist, werden Menschen ihre Heimat verlassen wollen. Wenn jemand einmal die Brücken hinter sich abgebrochen, die Kuh verkauft und das letzte Geld von der Bank abgehoben hat, kann er nur noch vorwärts. Man muss versuchen, die Menschen in ihrer Heimat zu halten, bevor sie sich in Bewegung setzen.

Der Ruf nach mehr Entwicklungshilfe, der jetzt immer ertönt, mag gut gemeint sein, wenn er nicht überhaupt nur als Beschäftigungsvorwand für diverse Hilfsorganisationen und NGOs erhoben wird. Die Billionen Dollar, die seit Jahrzehnten an staatlicher und internationaler Hilfe nach Afrika fließen, haben bestenfalls punktuelle Verbesserungen gebracht. Zu viel Geld ist von korrupten Eliten abgezweigt und nicht für eine Entwicklung der Länder verwendet worden.

Das heißt aber keineswegs, dass es nicht sinnvolle Möglichkeiten gibt, die Fluchtursachen zu mindern, damit „die, die nicht wandern wollen, nicht wandern müssen“. Das führen die Kirche und ihre Ordensgemeinschaften vor, die Schulen, Spitäler und Sozialeinrichtungen führen, die oft Oasen des Friedens und der Entwicklung sind. Dort wird Geld gut verwaltet und zum Nutzen der Länder eingesetzt. Wo die EU schon jetzt finanziell engagiert ist, müsste sie mehr tun, um „good governance“ zu fördern, die gewissermaßen der Zentralschlüssel zur Entwicklung ist.

Langfristige Chancen haben die afrikanischen Staaten nur, wenn sie ins System der internationalen Arbeitsteilung – also der Globalisierung – einbezogen werden. Dazu brauchen sie aber faire Handelsbedingungen. Die Europäische Praxis muss sich dabei von den modernen Ausbeutungssystemen unterscheiden, wie sie vor allem Indien und China in Afrika etabliert haben.

Dr. Hans Winkler ist Kolumnist. Er war früher Leiter des Wiener Büros der „Kleinen Zeitung" und deren Stellvertretender Chefredakteur.

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