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Franz Werfels prophetisches Erbe – eine Würdigung zum 70. Todestag

Anlässlich seines 70. Todestages am 26. August sei hier ein ehrendes Wort zu Franz Werfel gesagt. An dieser Stelle sollen Werfel hier Dank und Anerkennung für den Musa Dagh ausgesprochen werden. Noch mehr für Das Lied von Bernadette. Am meisten aber für ein Buch, das erfahrungsgemäß nur relativ wenige kennen, nämlich Höret die Stimme, sein 1937 erschienener Roman über den Propheten Jeremias. Es ist ein erstaunliches Buch.

Der unbefangene Leser wird sich bei der Lektüre nämlich immer wieder fragen: Wo hat er das her? Wie kann man das Innenleben eines Propheten dermaßen empathisch nachzeichnen? Wie konnte sich der Autor in die Situation des Volkes Israel des siebten vorchristlichen Jahrhunderts einfühlen?

Die Handlung: Ein Prophet dringt mit seiner Botschaft nicht durch

In profunder Kenntnis der biblischen Vorlage macht Werfel, bekanntlich selbst Jude, aus dem Stoff eine zusammenhängende Handlung, die ihrerseits in eine am Beginn des 20. Jahrhunderts spielende Rahmenhandlung eingebettet ist.

Der junge Mann Jeremia aus Anathot, einige Kilometer nördlich von Jerusalem, wird in Einsprechungen und Visionen von Gott berufen, vor die Mächtigen in Religion und Politik zu treten. Priester und Könige, Fürsten, Kriegsherren und Beamte – alle sollen sich zu einer inneren Gottesbeziehung bekehren. Sie sollen auch die sozialen Weisungen des mosaischen Gesetzes umsetzen. Das betrifft vor allem den Freilass der Sklaven im siebten Jahr, wie er im Gesetz vorgeschrieben ist (Ex 21,2). Das wird aber im Hinblick auf das Vorbild der – „pragmatischeren“ und „realistischeren“ – Nachbarvölker nicht gemacht.

Wenn die Entscheidungsträger jedoch nicht gehorchen, dann kommt das Strafgericht. Vor etwa „drei Menschenleben“ ist es bereits dem Nordreich so ergangen (Eroberung Samarias durch die Assyrer im Jahr 722).

Der für diese grimmige Verrichtung ausersehene „Knecht Gottes“ ist der babylonische Großkönig Nebukadnezzar II. Im Jahr 597 wird Jerusalem von Nebukadnezzar eingenommen. Er verhält sich allerdings äußerst zurückhaltend: Nur relativ wenige Israeliten aus der Oberschicht werden zusammen mit dem jugendlichen König Jechonjah und einigen Fürsten, erbitterten Feinden des Propheten übrigens, ins Exil verschleppt, Vergewaltigungen und Verwüstungen bleiben aus. Es kommt lediglich zu den kriegsüblichen Plünderungen.

Der Prophet ist erleichtert, dass es so milde gekommen ist:

„Das Volk lebte trotzdem, wenn auch verringert und gedemütigt. Aber es kam darauf nicht an, dass dieses Volk stolz und groß, sondern dass es rein war. Der Herr hatte ihm eine neue Frist der Entwirrung gesetzt. Es war wie ein frischer Beginn nach einer großen Sühne.“

Der Prophet hofft, dass Volk und Führer die Botschaft verstanden haben. Dem ist aber nicht so.

Der neue König Zidkijah setzt nicht auf eine verinnerlichte religiöse Praxis und die äußerliche Umsetzung der sozialen Gebote des mosaischen Gesetzes, sondern bricht in seiner Verblendung den Loyalitätseid gegenüber Nebukadnezzar und schmiedet gegen diesen einen Bund mehrerer Königreiche. Alle Mahnungen des Propheten werden abgeschmettert und bringen ihm Schmähungen, Folter, Haft und Mordanschläge ein, die er nur knapp überlebt.

In prekärer Situation wird der König dann doch nachdenklich und hört auf den Propheten. Er kann und will sich aber gegen seine Kriegstreiber nicht durchsetzen. Er schlägt in seinem verblendeten Stolz das letzte Friedensangebot Babylons aus und vertraut auf seine militärische Kraft – und stürzt im Jahr 586 sein Volk ins Unglück. Die Überlebenden der Eroberung werden in eine Gefangenschaft verschleppt, die etwa fünfzig Jahre lang dauern wird. Der König muss mitansehen, wie seine beiden Söhne erschlagen werden. Er selbst wird geblendet und ins Exil geführt.

Dem Propheten gewährt Nebukadnezzar Freiheit.

Im letzten inneren Ringen des Propheten mit Gott im zerstörten Tempel öffnet Werfel schließlich die Perspektive auf die letzte Offenbarung Gottes, auf das ewige Leben und auf „Gottes Freude“, die unvergänglich ist. Aber dafür müssen noch einige Jahrhunderte ins Land ziehen.

Werfels Ausführungen zur Geschichtstheologie

Gemäß dem Ductus des gesamten Alten Testamentes formuliert Werfel das Offensichtliche: Das Volk Israel folgt nicht dem Gesetz Gottes. Die Auserwählung sollte ein vorbildliches Glauben und Leben nach sich ziehen, um die Welt zum wahren Gott hinzuführen.

Das aber hat nicht funktioniert:

„Der Herr offenbarte Mose in klarem menschlichem Wort sein Gesetz und seine Ordnung, damit es fortan kein Straucheln und Irren gebe. Wurde diese Ordnung eingehalten und erfüllt, wurde sie immer feiner begriffen, immer reiner verwirklicht, wurde sie endlich durch die ihr innewohnende Einfachheit und Gültigkeit zur Ordnung der Welt, dann war es Israel vielleicht gegeben, das Zerstörte wiederherzustellen und das Reich Gottes zu errichten. Dies aber war Israel nicht gegeben. Der Plan Gottes scheiterte am Menschen, wie der Mensch an Gottes Plan. Der ausgesonderte Weltlauf Israels drohte wie ein fauler Bach im allgemeinen Weltlauf der Völker zu verschwinden. (…) In dem Volke und in seinen Königen wuchs die Sehnsucht, abtrünnig zu sein und sich anzugleichen. (…) So kam es, wie es kommen musste. Was tut der Steinmetz, wenn sein Meißel an der Härte des Steins zerbricht? Er wirft ihn fort.“

Ebenfalls im Sinne der hebräischen Bibel führt Werfel aus, dass das penible Einhalten von Kultgesetzen ohne einer Änderung des gesamten individuellen und sozialen Lebens keinen Wert besitzt. Die Anwesenheit des Tempels zu Jerusalem garantiert noch keine Wohlfahrt:

„Genügte es, mit frechem Leichtsinn auf Tempel, Opfer und Lade zu vertrauen, als sei der Herr ein menschlicher Hausvater, geizig und kleinlich, der seinen Schatz, was immer auch geschehe, aus der Feuersbrunst retten wird? Nein (…). Er bedurfte des Tempels, des Opfers, der Lade und der Lehre nicht. (…) Ichbinderichbin, er war nicht angewiesen auf Abrahams Samen, er konnte neue Pläne fassen, zu anderen Werkzeugen greifen.“

Der entschlossene Abfall vom Glauben – religiös übertüncht

Werfels Beschreibung der religiösen Situation zur Zeit Jeremias erzeugt in ihrer inneren Plausibilität und ihrem Wiedererkennungswert für heute beim Leser ein leichtes Frösteln.

Jojakim, Vorvorgänger von Zidkijah und dessen Halbbruder, ist König von Ägyptens Gnaden. Durch einen Handstreich an die Macht gekommen, erweist er sich als grausamer Gewaltherrscher. Die Priesterkaste fügt sich. Sie bringt kein Wort des Widerspruches über die Lippen, als der König den Propheten Urijah ums Leben bringt.

Die Schriftgelehrten schwadronieren im Tempel endlos über religiöse Fragen, ziehen aus dem Überdachten aber keine konkreten Konsequenzen:

„Durch die umfassenden Säulenhallen wandelten Altpriester und Schriftmeister mit ihren Schülern. (…) Andre Gelehrte schritten einsam versunken einher, mit feinem Lächeln dem erkennenden Selbstgespräch hingegeben. Alles wie immer. Kein Auge, das auf diesem weltabgekehrt geistlichen Treiben ruhte, hätte geahnt, dass der entschlossenste Abfall über Jerusalem herrschte, dass die Großen des Tempels und der Lehre den Mord an einem Geheiligten Gottes wortlos geduldet hatten. Hier unter diesen Säulen herrschte nicht die grobe Sünde der Gewalt, sondern die verfeinerte Sünde des Geistes, die geschmeidig im Worte forscht, ohne das Wort wahrzumachen, die spielerisch die Lehre zerspaltet, ohne die Lehre auf sich zu nehmen“.

Gott fordert aber etwas anderes als endlosen Disput: Innerliche Hingabe und Umsetzung der Gebote. Der Tempel in Jerusalem ist weder heilsnotwendig noch unzerstörbar. Jeremia schmettert den regierungsnahen Auftrags- und Lügenpropheten und der Tempelaristokratie das Gotteswort entgegen:

„Wenn ihr auf mein Wort und meine Lehre nicht hört, spricht der Herr, so zerstöre ich diesen meinen Tempel wie den von Silo, und euch mache ich zum Fluch der Völker“.

Die Botschaft

Diese ist, dass trotz der Offenbarung Gottes rechter Glaube und rechtes Handeln schwerfallen. Besonders im sozialen Bereich funktioniert es nicht. Das Volk der Erwählung gehorcht Gott nicht, sondern malträtiert dessen Propheten (und nicht nur diesen einen).

Man kann davon ausgehen, dass Werfel seinen Volksgenossen in kritischer Zeit etwas mitteilen wollte. Im nachalttestamentlichen, talmudischen Judentum spielt Jeremia jedenfalls keine Rolle mehr. Man hat auf andere Optionen gesetzt.

Werfel arbeitet eindringlich heraus, dass die vielgeschmähten „Unheilspropheten“ die echten Propheten sind. Die Heilspropheten, die im Dienst der politischen Macht stehen und gleichzeitig der Trägheit, der Arroganz und dem Nationalchauvinismus der Massen schmeicheln, sind Lügenpropheten. Sie haben keinen Auftrag von oben (Jer 14,13-16).

Denn es gibt kein zeitliches und kein ewiges Heil ohne rechtes Handeln. Wer predigt, dass der Verlauf der Geschichte (eines Volkes oder eines Individuums) ohne die Mühsal der Bekehrung gut wird, ist ein Lügner.

Der Lügenprophet Chananjah, der vorgibt, im Auftrag Gottes zu sprechen und unbegründeten Optimismus predigt, wird zur Strafe von tödlichem Wurmfraß geschlagen – was dem wirklichen Propheten keineswegs Respekt, sondern noch mehr Hass und Eifersucht einbringt.

Auch in der Gegenwart aktuell

Ein Katholik, der ja das Alte Testament als Gottes Wort bekennt und daher die Warnungen des Propheten auf das Volk des Neuen Bundes, die Kirche, umlegt, wird mit Erschrecken fragen müssen:

Welche Konsequenzen wird der im 20. Jahrhundert eingetretene offene Glaubensabfall nach sich ziehen? Sind dessen katastrophische Folgen in der Welt, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht schon längst sichtbar? War nicht auch „im Volk (…) die Sehnsucht, abtrünnig zu sein“ gewachsen? Und in der Hierarchie? Wie werden die Verhöhnung Gottes und die Schändung des Menschen, der Massenmord im Mutterleib und die geopolitisch einkalkulierten Revolutionen und Kriege, geahndet werden

Kein Grund zu vermessenem Optimismus.

Werfel – der kongeniale Interpret des Propheten

Wie eingangs gesagt, kann hier keine erschöpfende Schau und Deutung des Lebens von Franz Werfel geleistet werden. Manches blieb verworren. Man kann es nur bedauern, dass er sich – obwohl innerlich schon nahe daran – nicht zur Annahme der Taufe durchringen konnte. Wie auch immer: In einem gewissen Kontrast zu Stil und Wirkung des Musa Dagh und der Bernadette steht sein Jeremia-Roman, der auch in sprachlicher Hinsicht ein unausschöpfliches Meisterwerk darstellt, in seinem Werk und in der gesamten deutschsprachigen Literatur einsam dar. Man kann es nicht anders sagen: Franz Werfel ist der kongeniale Dolmetsch des Jeremia.

Dank und Anerkennung dem Autor daher zum 70. Todestag für diese Botschaft, die wir nur bekräftigen können:

Hört auf die Stimme der Wahrheit!

MMag. Wolfram Schrems, Linz und Wien, katholischer Theologe, Philosoph, kirchlich gesendeter Katechist

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