Das Selbstbestimmungsbegehr von Katalanen und Tirolern

Man muss sich nicht wirklich wundern, dass in Spanien der Ruf nach Verhaftung des katalanischen Regierungschefs Artur Mas laut wird. Eine rechtsgerichtete spanische Organisation namens „Manos Limpias“ („Saubere Hände“), die bei der Generalstaatsanwaltschaft in Madrid eine Anzeige wegen Rechtsbruch einreichte, begründete ihre Forderung nach dessen Festnahme mit den Plänen des Ministerpräsidenten Kataloniens, sein Land von Spanien abzuspalten. Denn auf nichts anderes liefe die von Mas auf den 27. September vorgezogene katalanische Regionalparlamentswahl hinaus.

Der Wahl hat Mas ein eigentliches Ziel zugewiesen: Das eines selbstbestimmungsrechtlichen Plebiszits der Bevölkerung in Sachen Loslösung von Spanien und also der Eigenstaatlichkeit Kataloniens. Er sieht das quasi als Ersatz für das von ihm und seinen Mitstreitern ursprünglich geplante, aber vom spanischen Verfassungsgericht untersagte Unabhängigkeitsreferendum nach schottischem Vorbild.

Sofern Mas und seine liberale Regierungspartei Demokratische Konvergenz (CDC) im Verbund mit den eher linken Republikanern (ERC) sowie der ebenfalls linksorientierten Separatistenpartei (CUP) und einigen Bürgerinitiativen die Mehrheit erzielt – und sofern sich Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy weiterhin Verhandlungen über die Abhaltung eines Referendums verschließt – soll dann das katalanische Regionalparlament einseitig die Unabhängigkeit des Landes erklären. Sie treten als Einheitsliste „Zusammen für das Ja" an, auf der auch der populäre Pep Guardiola, derzeit Trainer von Bayern München, kandidiert, und deren Spitzenkandidat der langjährige Europaparlamentarier der katalanischen Grünen, Raül Romeva, ist.

Damit steht Spanien eine Erschütterung bevor,  was sich allein schon aus Rajoys Klarstellung ablesen lässt: „Eine Unabhängigkeit Kataloniens wird es unter keinen Umständen geben. Meine Regierung wird die Einheit Spaniens erhalten."

Davon wird auch das ohnehin von Griechenland-Malaise und Völkerwanderungszustrom geschüttelte „gemeinsame Haus Europa“ nicht unberührt bleiben. Warum? Das schottisch-britische Verhältnis ist weiter in der Schwebe. In Großbritannien kommt es zudem möglicherweise zu einem EU-Austrittsreferendum. In anderen Mitgliedstaaten mit ungelösten Problemen nationaler Minderheiten sind ebenfalls Kräfte auf dem Vormarsch, die auf Stärkung der Selbstverwaltung pochen oder unter Berufung auf die Ausübung des ihren Landsleuten vorenthaltenen Selbstbestimmungsrechts Volksabstimmungen über deren Zukunft verlangen.

Zu den diesbezüglich gefährdeten Staaten zählt neben dem labilen, weil ethnisch konfliktgeladenen, Belgien auch Italien. In dessen Nordregionen und -provinzen stellen – aus zentralistischer römischer Sicht – neben venezianischen, padanischen und lombardischen  Unabhängigkeitsbewegungen, die zum Teil bereits durch beträchtliche politische Arme diese regionalen Gemeinwesen (mit)lenken, vor allem die für Selbstbestimmung eintretenden und aus den letzten Landtagswahlen 2013 gestärkt hervorgegangenen Südtiroler Oppositionsparteien eine „Gefahr für die Republik Italien“ und die verfassungsrechtlich determinierte „Einheit der Nation“ dar. Weshalb sie unter besonderer Beobachtung von Diensten und regionalen Statthaltern der italienischen Staatsmacht stehen und sich ihre Funktionäre respektive Abgeordnete bisweilen Anzeigen von Vertretern des „Siamo in Italia“ („Wir sind hier in Italien“) und demzufolge staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen „verfassungsfeindlicher Aktivitäten“ ausgesetzt sehen.

Strafrechtlich gefährdet ist in Südtirol prinzipiell schon jeder, der die Ansicht vertritt, dass die von Italien nur äußerst widerwillig gewährte, in bitteren Kämpfen erwirkte – in den 1960er Jahren auch durch Einsatz von Gewalt erfochtene – Autonomie der Provinz Bozen-Südtirol nicht das letzte Wort der Geschichte sein könne. Diese ist mittels Beschränkungen durch die gesamtstaatliche „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ Roms entwertet worden – und zwar nicht erst seit massive wirtschafts- und finanzpolitische Krisenerscheinungen in Italien zutage getreten sind.

Wer in besagter Autonomie nur eine (durchaus nicht gering zu schätzende) Etappe auf dem Weg zu einer Volksabstimmung über die Zukunft des Landes zwischen Brenner und Salurner Klause sieht, wer daher in Wort, Schrift und Tat dafür kämpft, dass der Bevölkerung die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ermöglicht wird, befindet sich aus der Perspektive der in Bozen, Innsbruck und Wien Regierenden in der Position des Unruhe stiftenden „Ewiggestrigen“. Und aus römischer Sicht in der des Staatsfeindes.

Für die Republik Italien ist die Gefahr der Sezession von Teilen ihres prosperierenden Nordens latent, aber, im Gegensatz zu den im Nord(ost)en des Königreichs Spanien dräuenden abspalterischen Umtrieben der Führung Kataloniens, realpolitisch auf absehbare Zeit wenig wahrscheinlich. Dies gilt insbesondere für das südliche Tirol. Solange in Bozen die nunmehr seit 70 Jahren regierende Volkspartei (SVP) maßgeblich die Landespolitik bestimmt, wird sie das von ihr stets verfolgte und aus Innsbruck, vor allem aber aus Wien gebilligte Arrangement mit Rom fortführen – sozusagen um (nahezu) jeden Preis, wie in den letzten Jahren geschehen.

Unter ihrem neuen, jungen Führungsduo aus Philipp Achammer (Parteiobmann) und Arno Kompatscher (Landeshauptmann) missachtet sie selbst Warnrufe ihrer ehedem führenden Politiker – beispielsweise des einstigen Parteiobmanns Roland Riz und des vormaligen Landeshauptmanns Luis Durnwalder – wonach das Land in Gefahr gerate, zu einer „gewöhnlichen italienischen Provinz“ abzusinken. Im Mentalen ist die Assimilation bereits weit fortgeschritten. Die SVP ist weit davon entfernt, ihre Machtposition in der Provinz, der Wirtschaft sowie den gesellschaftlichen Organisationen, also den Pfründen ihrer Politiker und Funktionsträger, gegen die (das) in ihrem Parteistatut verankerte, aber nie praktizierte Selbstbestimmung(srecht) einzutauschen.

Sie sieht sich aus einem neuen Grund noch weniger veranlasst, sich dem Verlangen der deutschtiroler Oppositionsparteien Freiheitliche (FPS), Süd-Tiroler Freiheit (STF) und BürgerUnion (BU) zu öffnen, es möge die Bevölkerung in einem Referendum über die Zukunft des Landes befinden. Dabei ginge es um die Alternativen:

  • Verbleib bei Italien in „Vollautonomie“ (SVP);
  • Eigenstaatlichkeit wie Luxemburg und Liechtenstein (FPS);
  • Rückgliederung nach Österreich und Wiedervereinigung mit Tirol (STF);
  • nicht näher bestimmte „Unabhängigkeit“ (BU).

Die Südtiroler Führung fühlt sich nun in ihrer Haltung dadurch bestärkt, als sich Wien anschickt, auf das Selbstbestimmungsrecht für die Südtiroler ein für allemal zu verzichten. Begründung: Es sei mit der Autonomie – gemäß Völkerrechtsauslegung, „innere Selbstbestimmung“ als einer „besonderen Form der Selbstbestimmung“ – bereits verwirklicht. So jedenfalls ist ein in der letzten Nationalratssitzung vor der Sommerpause still, heimlich, leise und ohne mediale Beachtung gefasster Beschluss zu werten, welchem eine Mehrheitsentscheidung (im Unterausschuss Südtirol) des Auswärtigen Parlamentsausschusses vorausgegangen war, gegen den letztlich nur die Freiheitlichen (FPÖ) gestimmt hatten.

Nicht zu Unrecht vermuten patriotische Kräfte diesseits und jenseits des Alpenhauptkamms dahinter eine fundamentale Kehrtwende der österreichischen Südtirol-Politik. Diese fußt auf Absprachen zwischen der bedrängten SPÖVP und der SVP. Der erwünschte Effekt ist ein politisch und ideologisch motiviertes Entgegenkommen gegenüber der „Sammelpartei“. Dieses „Arrangement“ lässt sich personell unschwer auf den juvenilitätskultisch verbrämten Gleichklang zwischen dem SVP-Obmann Achammer (30) und dem noch jüngeren österreichischen Außenminister Sebastian Kurz (28) zurückführen. Und der studierte Jurist Kompatscher plappert wider besseres Wissen die fragwürdige Völkerrechtsauslegung der beiden Jus-Studenten Achammer und Kurz nach, welche nunmehr zum Fundament der SVP-Schimäre „Vollautonomie“ avanciert ist.

Die Kehrtwende von Kurz und ÖVP hatte sich nach dem SVP-Parteitag 2014 (mit der Wahl Achammers zum neuen SVP-Obmann) bereits angedeutet. Kurz war damals Gastredner. Schon tags zuvor wetterte er in einem der SVP-nahen Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ gegebenen Interview wider „die Ewiggestrigen“.

In einem Brief (BMeiA-XX.2.1 3.33/0027-11.2/2014) vom 17. Juni 2014 an Roland Lang, den Obmann des Südtiroler Heimatbundes (SHB), an den ehemaligen Freiheitskämpfer und SHB-Obmann Sepp Mitterhofer, und an Univ.-Prof. Dr. Erhard Hartung, Sprecher der „Kameradschaft ehemaliger Südtiroler Freiheitskämpfer“, wurde die Haltungsänderung so begründet: „Träger des Selbstbestimmungsrechts sind die Südtiroler selbst. Politisch handeln sie durch ihre demokratisch legitimierte Führung. Die Bundesregierung ist mit der Südtiroler Landesregierung in laufendem Kontakt. Letztere setzt sich stark für die Festigung und Weiterentwicklung dieser Autonomie ein und wird darin von Österreich mit Überzeugung unterstützt. Die Südtirol-Autonomie ist damit ein konkreter Ausdruck des Gedankens der Selbstbestimmung. Basierend auf dem gemeinsam mit den Südtirolern ausverhandelten Südtirol-Autonomiestatut von 1972 enthält sie ein hohes Maß an Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung und ermöglicht es somit den Südtirolern, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln. Es handelt sich um eine konkret wirksame und praktisch ausbaufähige Selbstbestimmung. (Hervorhebung durch den Gastkommentar-Autor)

Gemäß Nationalratsbeschluss vom 8. Juli 2015 lautet die neue Südtirol-Entschließung aber nunmehr wie folgt: „Selbstbestimmung kann auf verschiedene Weise verwirklicht werden. Für Österreich besteht kein Zweifel, dass die Südtirol-Autonomie völkerrechtlich auf dem Selbstbestimmungsrecht beruht, das als fortbestehendes Recht von Südtirol in Form weitgehender Autonomie ausgeübt wird. Die Südtirol-Autonomie mit hohem Maß an Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung ist eine besonders gelungene Form der Selbstbestimmung.“

Damit hat Österreich nicht nur seinen seit Jahrzehnten stets beibehaltenen Rechtsstandpunkt aufgegeben und sich damit – selbst und ohne Not – der Verpflichtung zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts begeben, wie sie seit der Geburtsstunde der zweiten Republik mehr oder weniger parteiübergreifend bestand.

Österreich hat damit auch formell dem Rechtsanspruch der Südtiroler auf Gewährung und Ausübung des Selbstbestimmungsrechts entsagt, indem die Südtirol-Autonomie mit Selbstbestimmung gleichgesetzt und damit für bereits verwirklicht erklärt wird. Schlussendlich hat es sich damit auch faktisch seiner „Schutzmacht“-Rolle entledigt, welche es 60 Jahre lang, nämlich seit der mit dem Staatsvertrag wieder gewonnenen Souveränität 1955, eingenommen hatte. Welche aber von den in Wien Regierenden seit der Streitbeilegungserklärung gegenüber den Vereinten Nationen (1992) immer mehr als Belastung für das österreichisch-italienische Verhältnis empfunden worden war.

Darob frohlocken italienische Politiker jedweder Couleur. Der Stiefelstaat ist seit 1861 ein nur durch rigiden Zentralismus zusammengehaltenes fragiles Gebilde, das 1918/19 den Südteil Tirols erst waffenstillstandswidrig besetzte und dann zufolge eines Pariser Vorortvertrags, welcher Italiens Seitenwechsel von 1915 belohnte, als Kriegsbeute einverleiben und unter der Fuchtel von Mussolinis Schwarzhemden der Italianità unterwerfen durfte.

1945 wurde den Südtirolern die Selbstbestimmung abermals verwehrt; stattdessen „gewährten“ ihnen – wiederum in Paris – die Siegermächte, wozu Italien seit seinem abermaligen Seitenwechsel 1943 wiederum gehörte, im Gruber-DeGasperi-Abkommen eine stets anfällige Autonomie. Man mache sich nichts vor: In zentralistischen Staaten wie Spanien und Italien – man könnte fortsetzen: Frankreich, Rumänien et alii – in denen zudem die „Einheit der Nation“ über allem rangiert, sind Autonomien Fremdkörper. Trotz der austro-italienischen Beschwichtigungsformel vom „europäischen Modellfall“ höhlte Italien den transalpinen Teil Tirols tatkräftig aus. Dass das nicht wenige Südtiroler mit Blick auf Edinburgh und Barcelona, wo man derlei Gebaren nicht hinnimmt, und auf das beschämende Verhalten Wiens erzürnt von Verrat sprechen lässt, ist daher nur allzu verständlich.

Der Verfasser ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

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