Vor etwa zwei Monaten wurde in Wien ein bemerkenswerter historischer Roman präsentiert. Bemerkenswert ist er nicht nur wegen des Inhalts, der auch historisch interessierten Lesern kaum bekannt sein wird, sondern auch wegen der ideenreichen Aufbereitung des Stoffes. Schließlich sind Autor und Verlag bemerkenswert.
Die Handlung spielt im Jahr 1811. Ein anonym bleibender österreichischer Leutnant wird von Baron Friedrich von Gentz, dem Vertrauten von Fürst Metternich, mit einer Recherche betraut, die eine von Frankreich ausgehende „länder- und generationenübergreifende Verschwörung“ aufdecken soll. Im Jahr 1795 hatte eine Gruppe von Fanatikern der „Gleichheit“ bzw. „messianischen Sozialisten“ einen Putsch gegen das „Direktorium“ und die neue Verfassung geplant.
Diese Gruppe der sogenannten „Gleichen“ verstand Direktorium und neue Verfassung als Verrat an den ursprünglichen Absichten der Revolution von 1789 und der Verfassung von 1793: „[Dem] Volk geht es unverändert schlecht. Von der Revolution hat es nichts gehabt. Das Privateigentum wurde nicht abgeschafft, sondern ist von den Ständen auf die neuen Klassen übergegangen“ (104).
Der Putschversuch wird jedoch verraten und zwei der Angeklagten, François Noël Babeuf, genannt „Gracchus“, und Augustin Alexandre Darthé, werden in Vendôme mit der Guillotine hingerichtet.
Metternich möchte angesichts der prekären Lage Österreichs erheben lassen, ob gut fünfzehn Jahre später weiterhin konspirative Kreise existieren. Besagter Leutnant soll nun die Organisationsform, die Ideologie und die allfälligen Nachfolger der egalitären Konspiration an Ort und Stelle untersuchen.
Da der Leutnant aufgrund seiner elsässischen Mutter perfekt französisch spricht, ist er für diesen Auftrag geradezu prädestiniert.
Die Gegenseite schläft jedoch nicht. Aufgrund eines Zufalls entgeht der Leutnant einem Brandanschlag auf seine Wohnung. Er muss feststellen, dass er observiert wird.
Schließlich reist er mit einer österreichischen Delegation zur Taufe des Sohnes von Maria-Louise und Napoleon, setzt sich aber in Straßburg von der Gruppe ab. In Vendôme findet er die Spur Babeufs, in Paris den Logenraum der „Gleichen“ und die „Zehn Gebote der höllischen Armee“.
Trotz guter Tarnung erregt er Verdacht.
Nach einer spektakulären Flucht landet er bei den katholischen Widerstandskämpfern in Spanien. Diese setzen sich mit britischer Hilfe in einem regelrechten „Kreuzzug“ gegen die diabolische Aggression Napoleons zur Wehr.
Den Schluss bildet die Auswertung des Materials mit Gentz.
Ein äußerst origineller Epilog thematisiert das Weiterleben der Konspiration bei Marx, Trotzki, Lenin und Marcuse.
Darstellungskraft, Gedankenschärfe, Empathie
Der unter dem Pseudonym S. Coell schreibende Autor – tief im freiheitlichen Lager verwurzelt und dem Vernehmen nach ein ausgezeichneter Jurist – hat die Gabe, eine Handlung spannend und ideenreich darzustellen: Dramatische Höhepunkte sind die Suche nach der unterirdischen Loge und die Flucht vom Schiff.
Er hat auch die Gabe, grundsätzliche, rechts- und geschichtsphilosophische Überlegungen präzise und verständlich darzulegen.
Inhaltlich sympathisiert er offensichtlich mit den anti-utopischen und anti-totalitären Überzeugungen von Friedrich von Gentz:
„Aber dennoch bin ich überzeugt, dass die Idee, alle Staaten zu einem einzigen zusammenzufassen, keinen Frieden bringen würde. (…) Ein solcher Weltstaat würde mehr Unglück stiften als alle Kriege, denen er ein Ende machen sollte“ (39).
Der Autor denkt sich gut in seine Charaktere hinein. Besonders gelungen ist das fiktive Tagebuch des Verschwörers Babeuf vulgo „Gracchus“:
„Die Zerstörung der Kirchen und Friedhöfe, die Enthauptung der Gesalbten, die Enteignung des Kirchenvermögens, der Republikanische Kalender, die Entweihung Notre-Dames zur Kathedrale der Vernunft, die Vertreibung der Pfaffen, die nicht bereit waren, Rom abzuschwören und einen neuen Eid auf unsere Verfassung abzulegen – das alles wäre sinnlos gewesen, hätten wir den Menschen nicht eine neue Religion gezeigt: die Idee des Höchsten Wesens, in dem die Seele der Vernunft ewig lebt“ (91).
Auch der Staatsanwalt wird plastisch dargestellt:
„Der] Punkt ist doch der, dass Sie schlicht und einfach ein habitueller Verbrecher sind. Ein Verbrecher, der vorgibt, ein Tribun zu sein“ (121).
Die eine oder andere Formulierung ist geradezu aphoristisch:
„Was dem Christen sein Evangelium, ist dem Gutmenschen die Erklärung der Menschenrechte“ (179).
Kirche zwischen Widerstand und Anpassung
Äußerst bemerkenswert, da in unserer Zeit so gut wie denkunmöglich, ist die Darstellung der katholischen Widerstandsbewegung in Spanien:
„Und noch etwas fiel dem Leutnant auf: die große Anzahl von Priestern im Lager. Diese Priester waren aber anders als die Konstitutionspfaffen, die er in den französischen Ländern kennengelernt hatte. Sie waren auch anders als die feisten Pfaffen der Habsburgermonarchie. Diese hier waren schlank und groß. Ihre Blicke waren aufrecht und entschlossen. Ihre Gesichter waren aus kantigen Zügen gezeichnet. Diese Leute waren keine Pfaffen, das waren Priester, ihr Auftreten hatte das Format von Offizieren. Deutlich fühlte er, dass er mit ihnen durch ein unsichtbares Band verwoben war, das stärker war als jede Konfession“ (190).
Damit spricht der Autor den verwerflichen Opportunismus von Kirchenmännern angesichts einer problematischen weltlichen Macht an. Die Kirche-Staat-Beziehung des freimaurerisch inspirierten Josephinismus und des Vormärz ist tatsächlich nicht erfreulich.
Vom Niveau eines hl. König Ludwig IX. (1214 – 1270) fallen auch die französische Kirche und das französische Königtum im 17. und 18. Jahrhundert ab – mit allen unbestritten vorhandenen negativen sozialen Konsequenzen wie weitverbreiteter drückender Armut bei frivolem Reichtum weniger.
Der Autor hatte bei der kritischen Darstellung der staatshörigen Priester wohl auch die unwürdigen und nichtssagenden „Konstitutionspfaffen“ vor Augen, wie sie uns im derzeitigen Österreich in großer Anzahl begegnen – je höher in der Hierarchie, desto schlimmer, meist.
Nachdem sich der Autor eben im Wesentlichen mit den Gentzschen Überlegungen identifiziert, wird man diese Passage aus dem einleitenden Gespräch von Gentz mit dem Leutnant auch autobiographisch deuten können:
„Insofern habe ich, und ich muss nicht betonen, dass wir beide Protestanten sind, einen gewissen Respekt vor der katholischen Förmlichkeit“ (53).
Angesichts dessen, dass der Autor selbst nicht Katholik ist, sind alle diese Ausführungen eine erfreuliche Überraschung.
Philosophische und theologische Reflexionen
Grundsätzliche Überlegungen von hoher Qualität sind in großer Zahl eingearbeitet. Der Autor lässt etwa einen der Guerilla-Priester sagen:
„Über all den politischen Pakten schwebt der wirkliche Feind, zumal hinter jeder politischen Frage eine theologische verborgen ist. Diesen wirklichen Feind gilt es zu erkennen und diesem gilt es, den absoluten Krieg zu erklären“ (194).
Bei der Erörterung der zutiefst irrationalen revolutionären Ideen mit ihrem hohen Hass- und Mordpotential lässt der Autor Friedrich von Gentz sagen:
„Die entscheidende Frage ist, ob sich die Quelle der Zersetzung im Diesseits oder im Jenseits befindet“ (215).
Resümee
Der Autor, kein staatlich geförderter Berufsschriftsteller, musste sich die Zeit für die profunden Recherchen aus seinem Tagesablauf förmlich herausgekratzt haben. Das Literaturverzeichnis umfasst immerhin dreißig Titel, darunter hochspezialisierte wissenschaftliche Publikationen.
Die Grundaussage des Buches ist: Es gibt Verschwörungen. Sie sind der Motor von Revolutionen.
Anzunehmen, solche Vorgänge gingen „von selbst“ vonstatten, wäre idiotisch. Der Autor hat die Courage, die konspirative Dynamik zu thematisieren und – im Epilog – einen Bezug zur Gegenwart herzustellen. Die Revolution ging eben weiter: Verschwörungen in der Verschwörung, die „permanente Revolution“.
Das Direktorium konnte das letztlich nicht aufhalten. Auch der Wiener Kongress nicht.
Und dass beklagenswerte Zustände in Kirche und Staatenwelt heute so sind, wie sie sind, muss ja irgendjemand wollen:
In gewisser Hinsicht sind es dieselben, die damals „Gleichheit“, egalité, erzwingen wollten – von der sie selbst natürlich ausgenommen sind. Manche sind eben doch „gleicher“ als andere.
Der Autor schreibt ein gutes und nüchternes Deutsch. Einzelne Formulierungen sind sehr gut gelungen. Einige wenige Stellen sind allerdings weniger glücklich ausgefallen.
Manchmal liegen auch alte und neue Rechtschreibung miteinander im Widerstreit. Außerhalb eines Briefes ist zudem die Großschreibung von „du“ und dessen Ableitungen nicht orthographisch. Einige Verschreibungen sind dem Lektorat entgangen.
Die Fußnoten sind zwar für die weitere Beschäftigung mit dem Stoff eine gute Hilfe, sind aber in einer sehr eigenwilligen Zitationsweise gehalten. Vielleicht kann das in einer Zweitauflage ausgebessert werden.
Schließlich ist bemerkenswert, dass der Zur-Zeit-Verlag von Ex-Europaparlamentarier Andreas Mölzer dieses Buch verlegt hat. Denn auch wenn man in diesen Kreisen auf Hausverstand in politischen Fragen trifft, so sticht dieses Buch inhaltlich und formal doch bei weitem aus dem freiheitlich Üblichen heraus.
Es ist bekannt, dass das „Dritte Lager“ aus seinen historischen Wurzeln heraus ablehnend zur Katholischen Kirche steht (auch wenn sich das in den letzten Jahrzehnten etwas modifiziert hat). Umso erfreulicher ist es daher, dass einem Autor aus diesem Lager eine faire und wohlwollende Behandlung von Glaube, Kirche und Naturrecht gelingt. Für die historische Urteilsfähigkeit des Autors spricht auch eine differenzierte Bewertung Metternichs. Es scheint, als ob hier jemand über den eigenen Schatten gesprungen ist.
Es bleibt am Schluss zu wünschen, dass dieses Buch weite Verbreitung findet. Am besten schon als Schullektüre.
Schließlich ist sehr zu hoffen, dass der Autor Zeit für eine Fortsetzung findet. Oder noch besser für mehrere.
Im Schatten des Gracchus – Historischer Roman von S. Coell, „Zur Zeit“-Edition, Band 21, Wien 2015, 244 S., http://zurzeit.eu/boxen/buecher_148
MMag. Wolfram Schrems, Linz und Wien, katholischer Theologe, Philosoph, Katechist