Seit einigen Jahrzehnten betrachtet man eine profunde Verwirrung im Denken. Sie hängt mit der aus dem Darwinismus stammenden Vorstellung von der „Entwicklung“ und der „Transformation“ zusammen. Es handelt sich um die Idee, wonach sich eine Sache in eine andere „entwickeln“ könne.
Ausgehend vom Darwinismus, nach dem man meinte, „aus“ dem Affen hätte sich der Mensch „entwickelt“, schlossen manche, Analoges gelte auch für Ideologien, Meinungen und Wissenschaften (außer natürlich für den Darwinismus selbst). Heute hat man beispielsweise die Hoffnung, der Islam werde sich zu einem friedlichen „Euro-Islam“ „entwickeln“.
Und schließlich sagen manche, das Christentum hätte sich auch „weiterentwickelt“ und das II. Vatikanische Konzil habe alte Positionen obsolet gemacht. Der Carthusianus-Verlag brachte die einschlägige Abhandlung von Vinzenz von Lérins, das sogenannte „Commonitorium“ (ca. 430 n.Chr.), in einer ausführlich eingeleiteten und kommentierten zweisprachigen Ausgabe auf den Buchmarkt.
Der Nüchternheit der überzeitlichen Aktualität vs. die Euphorie der „Moderne“
Aber wie soll ein Traktat aus der Antike „moderne“ Fragen adäquat behandeln können? Nun, genau da liegt das Problem einer von „Evolutionsgedanken“ vernebelten „Moderne“.
Denn „moderne Fragen“ gibt es nicht. Es gibt nur die überzeitlichen Fragen des Menschen nach dem Guten, Wahren und Schönen und vor allem die nach seinem ewigen Heil.
Seit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus sind diese Fragen geklärt, der Weg zum Heil eröffnet, alle Alternativ- und Gegenvorschläge daher ins Unrecht gesetzt.
Die Frage, die sich jedoch stellt, ist, wie der Gläubige legitime Entfaltungen der Glaubenslehre von häretischen Neuerungen unterscheiden kann. Vinzenz von Lérins (geb. um 380, gest. zwischen 440 und 450), Mönch des Klosters der Insel Lérins vor der französischen Mittelmeerküste, bot dazu in seiner „Mahnschrift“ eine hervorragende Orientierung.
Kardinal John Henry Newman, besonders prominent, hat sie 1844 für sein „Development of Christian Doctrine“ aufgegriffen. Die kirchliche Lehrautorität hat sie an verschiedenen Stellen rezipiert.
„Quod ubique, quod semper, quod ab omnibus“
Diese Regel ist der wichtigste Merkspruch des Vinzenz. Sie dient als Kriterium für den Glauben der Kirche in Abgrenzung von Abweichungen oder Neuerfindungen aller Art:
„In der katholischen Kirche ist in besonderem Maße dafür Sorge zu tragen, dass wir das festhalten, was überall, was immer, was von allen geglaubt wurde: das ist nämlich wahrhaft und eigentlich katholisch (comm. 2,5). Nochmals komprimiert Vinzenz seinen sogenannten ersten Kanon, indem er dessen Elemente prägnant mit den Begriffen Universalität (universitas), Alter (antiquitas) und Konsens (consensio) umschreibt (…)“ (81).
Vinzenz exemplifiziert dieses Prinzip, indem er es auf Häresien seiner Zeit oder der unmittelbaren Vergangenheit anwendet (Arianismus, Donatismus, Nestorianismus).
Dabei gilt: Alle, auch Papst, Bischöfe und Priester müssen sich an dieselben Glaubensinhalte, an dieselben Gebote und an dieselben liturgischen Vorschriften halten. Es gibt keine Geheimlehren, die nur verschworenen Zirkeln zugänglich wären. Alle Glaubenslehren, die schriftlichen und die mündlichen, sind der gesamten Kirche anvertraut und sind grundsätzlich jedermann zugänglich.
Dabei gibt es eben eine legitime Entwicklung im Sinne der Ausfaltung des einschlussweise Geglaubten. Die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis ist z. B. eine solche legitime, organische Entfaltung, da sie im (mündlich und schriftlich geoffenbarten) Glaubensgut angelegt ist.
Fiedrowicz erläutert:
„Daher bediente sich auch Vinzenz dieses Vergleiches mit der natürlichen Entfaltung des Lebendigen, indem er das Wachstum zunächst des menschlichen Leibes, dann des pflanzlichen Samens anführte (comm. 23,4-12), um die Kompatibilität der Unwandelbarkeit des Wesens und der allmählichen Ausformung der Gestalt aufzuweisen, aber auch homogenen Fortschritt und substantielle Veränderung voneinander abzugrenzen“ (116).
Neuerung als vermeintliche „Aufklärung“ – sehr aktuell
Vinzenz beruft sich auf die klassische Stelle 1 Tim 6, 20, in denen von den „Neuerungen“ einer so genannten „Erkenntnis“ bzw. „Wissenschaft“ (griechisch gnosis, lateinisch scientia) gewarnt wird.
Die Grunddaten der Offenbarung, nämlich Gottsohnschaft Jesu Christi, Jüngerkreis als Keimzelle der Kirche, Sühnetod am Kreuz, leibliche Auferstehung, Geistsendung, stehen von Anfang an fest. Doktrin und Ethik falten sich rasch aus. Die Offenbarung ist grundsätzlich mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen. Danach wird alles implizit Angelegte ausgefaltet.
Vinzenz bezieht sich also auf den Völkerapostel, wenn er schreibt:
„Meide, spricht er, die unheiligen Wortneuerungen. (…) Und die Antithesen der fälschlich so genannten Erkenntnis, spricht er. Ein wahrhaft falscher Name für die Lehren der Häretiker: so wird die Unwissenheit mit dem Namen des Wissens, der Nebeldunst mit dem Namen der Aufklärung und die Finsternis mit dem Namen des Lichtes überschminkt“ (261).
Die „Aufklärung“ ist hier also ein Etikett für eine Ideologie, die den überlieferten Glauben neu deuten und damit ersetzen soll. Häufig ist es der wohlbekannte Typ arroganter „Experte“, der den Hinterwäldlern erklärt, wie es wirklich geht. (Das 20. Jahrhundert bietet besonders in Gestalt „prominenter“ Konzilstheologen reiches Anschauungsmaterial für einflussreiche Autoren, die auf die einfachen Gläubigen herabschauen und traditionsorientierte Fachkollegen verspotten und verleumden.)
Vinzenz von Lérins hat dagegen eine wahrhaft pastorale, seelsorgerliche Einstellung, wenn er den Völkerapostel paraphrasiert:
„Durch dich sollen die Nachkommen die glückliche Einsicht in das erhalten, was die alte Zeit vorher verehrte, ohne es zu verstehen. Dennoch lehre dasselbe, was du gelernt hast, so dass du, falls du es neu sagst, nichts Neues sagst [ut cum dicas nove, non dicas nova]“ (265).
Das Commonitorium als Hilfsmittel in Zeiten nachkonziliarer Verwirrung
Wie jede artübergreifende „Entwicklung“ in der Biologie ein Unding ist – aus einem Lurch wird nun einmal kein Säugetier – so ist auch jede artübergreifende „Entwicklung“ in der Ingenieurskunst ein Unsinn: Auch über viele Zwischenstufen („missing links“) wird aus einer Nähmaschine kein Staubsauger. Es handelt sich einfach um eine andere „Idee“.
Und dasselbe gilt für das geoffenbarte Glaubensgut der Katholischen Kirche: Dieses entfaltet sich im Rahmen ihres Selbstverständnisses, aber natürlich wäre es sinnlos, in der Negation zentraler Glaubensinhalte, etwa der Erlösung durch Christus, eine „Weiterentwicklung“ dieses Glaubensgutes zu erblicken. Weder die Umdeutung des ursprünglichen Christus-Glaubens durch Mohammed, Luther oder Calvin, noch die Verwässerung desselbigen in den uferlosen und widersprüchlichen Texten des II. Vaticanums, noch die verrückten Ideen der „Pfarrerinitiative“ können logischerweise eine „Weiterentwicklung“ sein.
Fiedrowicz führt zur diesbezüglichen Praktikabilität des vinzentischen Kanons daher aus:
„Indem [Vinzenz] einerseits positive Formen einer Dogmenentwicklung beschrieb, andererseits jedoch die Kriterien der Identität, Kontinuität und Homogenität zum Grundprinzip erhob, hatte er aufgezeigt, dass sich die Legitimität einer Entwicklung auf dem Weg einer Prüfung erkennen lasse, die sich der erarbeiteten Maßstäbe bediente und mit logischer Einsicht und historischer Kenntnis zu einem sachgemäß-eigenständigen Urteil gelangen konnte“ (121).
Resümee
Das Werk ist allen zu empfehlen, die sich für die Frage nach der Entwicklung der kirchlichen Lehre interessieren. Es setzt zwar ein erhebliches Problembewusstsein in theologischen Fragen voraus, andererseits wird der Stoff durch Einleitung und Kommentar gut erläutert. Man könnte es ad experimentum auch im Lateinunterricht einsetzen.
Das Buch ist hervorragend ausgearbeitet. Umfangreiche Bibliographie, Personenindex und Sachindex machen es zu einer wissenschaftlichen Quelle. Wenige unbedeutende Flüchtigkeitsfehler sind zu vernachlässigen.
Die Arbeitsleistung des Herausgebers und der Übersetzerin ist überaus eindrucksvoll. Letzterer ist ein flüssiger und gut lesbarer Text gelungen.
Möge es eine weite Verbreitung finden.
Vinzenz von Lérins, Commonitorium, Mit einer Studie zu Werk und Rezeption - herausgegeben und kommentiert von Michael Fiedrowicz, übersetzt von Claudia Barthold, Carthusianus-Verlag, Mülheim/Mosel 2011, 368 S. www.carthusianus.de
MMag. Wolfram Schrems, Linz und Wien, katholischer Theologe, Philosoph, Katechist, langjährige Erfahrung im Lebensschutz