Der Integration haben die türkischen Verbände in Österreich einen Bärendienst erwiesen. Ihr Offener Brief an die österreichischen Parlamentarier ist das schonungslose Offenlegen eines fehlgeleiteten und hetzerischen Geschichtsverständnisses. Dabei ist es vollkommen irrelevant, ob beim einjährigen Abschlachten des armenischen Volkes „nur“ 500.000 oder 1,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden.
Genozid bedeutet, dass der Massenmord eines Volkes durch die Führung eines anderen Volkes ermöglicht, geduldet und schließlich gesteuert wird. Wenn die Unterzeichner dieses Offenen Briefes – wie im Übrigen auch der Präsident der Türkei, der offensichtlich der eigentliche Präsident der Briefunterzeichner sein dürfte – nun Beweise sehen möchten, nicht nur der individuellen Schuld einzelner türkischer/osmanischer Schergen, sondern auch der Steuerung des Genozids durch die osmanische Führung, dann brauchen sie nur die Augen zu öffnen.
Die Beweise liegen seit Jahrzehnten klar vor. Mögen noch so viele Phantomschmerzen dazu von türkischer Seite demonstriert werden. Das Deutsche Bundesarchiv/Archiv des Auswärtigen Amtes – nur als Beispiel – ist voll mit Beweisen. Mit Ton-, Film- und Schriftbeweisen. Wer diese unwiderlegbaren Tatsachen negiert, machte sich der Hetze gegen die einfachste zivilisatorische Humanität und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig und verharmlost zugleich damit einen überholt geglaubten Totalitarismus. Dass in türkischen Archiven hundert Jahre nach diesen Verbrechen manche Dokumente nicht zu finden sein werden, ist durchaus nachvollziehbar. Im Übrigen bedarf es keines Wannsee-Protokolls für ein historisch klar konstatiertes Faktum eines Genozids.
Österreich und Deutschland tun gut daran – aus Gründen der Glaubwürdigkeit und des eigenen zivilisatorischen Status – dies durch ihr gewähltes Parlament auszusprechen. Zu groß ist die Schuld, dem Bundesgenossen Türkei 1915/1916 nicht in den mordenden Arm gefallen zu sein. Das Gedenken an die Schlacht von Gallipoli ist in diesem Zusammenhang bezeichnend: Die offizielle Türkei gedenkt des Ersten Weltkriegs im Kontext mit einem militärischen Sieg. Hätte das offizielle Österreich zum Beispiel der siegreichen 12. Isonzoschlacht im Rahmen seiner Gedenkkultur zum Ersten Weltkrieg gedacht, wäre zurecht ein Aufschrei durch das Land gegangen. Das ist eben der Unterschied. Ein Unterschied, auf den man als Österreicher stolz sein darf. Wenn man das Wort „stolz“ ausnahmsweise übernehmen will.
Die Unterzeichner des Offenen Briefes fühlen sich also in ihrer „Ehre“ als Türken gekränkt. Sieht man einmal davon ab, dass der Begriff „Ehre“ in unserem mitteuropäischen Sprachraum – gottlob – eher selten verwendet wird und in der Politik überhaupt keine Rolle spielen sollte: Was kann das für ein perverser Stolz und Ehre sein, der den im Namen des türkischen Volkes begangenen Genozid an den Armeniern ignoriert und chauvinistisch, aggressiv geringschätzt? Weil die Opfer bloß Christen waren? Weil die Ermordung Hunderttausender in Kriegszeiten passierte? Wehe der deutschsprachigen Kultur, würde Auschwitz auch nur eine Sekunde relativiert, weil Krieg war!
Der Vorsatz zum ethnischen Massenmord ist da wie dort derselbe. Talat Pascha und Enver Pascha haben sich ihrer irdischen Gerechtigkeit in dieser Frage entzogen, wenngleich Talat vor seiner Ermordung durch einen Armenier in seinem Berliner Exil 1921 Reue und damit den Rest eines Gewissens zeigte.
Die moderne Türkei der Gegenwart kann aber nun beweisen, ob sie innerhalb oder außerhalb der zivilisierten Gemeinschaft steht. Es ist zu wenig, darauf zu verweisen, die offizielle Türkei hätte ohnehin für die Opfer des Massenmordes Bedauern geäußert. Als Österreicher wissen wir, dass Bedauern zu wenig ist. Erst ein klares, unmissverständliches Schuldbekenntnis ermöglicht überhaupt, ernst genommen zu werden.
„Ehre“ und „Gekränkt-Sein“ sind keine politischen Kategorien im Europa des 21. Jahrhunderts. Wer das anders sieht, der zeigt keinen Ansatz zum Verständnis europäischer Kultur. Diese Lehre haben wir aus dem blutigen 20. Jahrhundert gezogen und sie ist die verbindende Klammer zwischen allen europäischen Staaten und Nationen. Ein Großteil der türkischen Vereine setzt sich aus Menschen zusammen, die in österreichischen Schulen über den Holocaust gelernt haben. Vielleicht sind sie sogar vor den Krematorien in Mauthausen gestanden? Doch dann sollten sie eigentlich wissen, wie ein Genozid aussieht.
Die Beweise für die Verbrechen an den Armeniern 1915/1916 liegen am Tisch. Für Kurzentschlossene und Wahrheitssuchende sei der ausgezeichnete und ohne Hass gegen das türkische Volk gerichtete ORF/ZDF-Beitrag „Aghet“ zu empfehlen, der an Eindeutigkeit keinen Zweifel lässt. Wer Humanität und die historische Wahrheit leugnet, der möge seinen konstruierten Frieden finden, aber er kann nicht glauben, dass dies mit der europäischen Zivilisation des 21. Jahrhunderts im Einklang steht und gar ohne Widerspruch bleibt.
Dr. Johannes Schönner ist Zeithistoriker mit Schwerpunkt österreichischer und europäischer Geschichte; Publikationen zur europäischen Parteiengeschichte und Kurator von Ausstellungen zu Themen wie Widerstand und Europäischer Integration.