Während der klassische Marxismus die Ausbeutung der Arbeiter zu Recht kritisierte, kritisierte die 68er-Generation die Reduktion des Menschen auf eine Marionette des Wirtschaftswunders. Bei beiden ist die Diagnose richtig, die Therapie falsch: Wo der klassische Marxismus durch Revolution durchgesetzt wurde, erzeugte er größeres Elend als das von ihm bekämpfte. Und die 68er-Strömung mit ihrem Kampf gegen die gesellschaftstragenden Institutionen hätte, wäre ihre Revolution gelungen, zur blanken Anarchie geführt.
Allerdings ist diese Problematik noch nicht ausgestanden, weil die erfolglosen Revolutionäre in Medien und Politik langsam, aber leider erfolgreich, eine Umwertung der gesellschaftstragenden Institutionen bewirken – so schleichend, dass es von der Mehrheit gar nicht bemerkt wird: Ehe und Familie, Bildungs- und Arbeitsinstitutionen, Rechtsstaat und last but not least werterziehende Institutionen wie Kirchen werden langsam, aber konsequent desavouiert.
Es gibt Institutionen, die nicht gesellschaftstragend sind (Fußballclub, Gesangsverein etc), aber auch solche, die für den Bestand einer Gesellschaft unbedingt nötig sind: Um Sozialbezüge auf Dauer sicher zu stellen, d.h. um Gesellschaft zu schaffen und zu erhalten, brauchen wir zumindest vier Institutionen:
- Ehe und Familie zur Selbstreproduktion und damit zur Arterhaltung,
- Bildungsinstitutionen und Arbeitsstätten aller Art zur Selbsterhaltung,
- der Rechtsstaat (und entsprechende Unter-Institutionen) zum friedlichen Zusammenleben und
- weltanschauliche Organisationen, die die Grundwerte bejahen und fördern – was konkret vor allem die Kirchen tun.
Institutionen sind also der künstliche Ersatz für die fehlende Instinktsteuerung des Menschen und insofern notwendig. Sekundär aber können sie, weil sie langlebiger und weniger flexibel sind als das Individuum, die Funktionen überleben, zu deren Stabilisierung sie beitragen sollten, und so zu einem gesellschaftlichen Korsett erstarren.
Diese Ambivalenz von Institutionen führte zu unterschiedlichen Formen von Institutionenkritik. Eine systemimmanente Institutionenkritik hat in der Geschichte immer wieder stattgefunden. Sie hält gesellschaftserhaltende Institutionen für grundsätzlich notwendig, aber für immer verbesserungsbedürftig. Doch die 68er-Generation ging besonders im Anschluss an Habermas den extremeren Weg der systemtranszendenten Institutionenkritik: Der gesellschaftlich geforderte Triebverzicht, der den einzelnen in die Neurose treibt, treibe die Gesellschaft zur Schaffung von Institutionen; Institutionen seien also Gesellschaftsneurosen; dabei entspricht dem Wiederholungszwang der Neurose die Verhaltensstabilisierung durch Institutionen..
Die Emanzipation von der Entfremdung erfordert folglich eine Zerstörung aller gesellschaftlich anerkannten Institutionen (Habermas J., Erkenntnis und Interesse, 335-337). Denn der Einzelne kann die Befreiung von Institutionen nur erträumen. Eine politische Gemeinschaft kann diese Befreiung hingegen, nötigenfalls mit Gewalt, erzwingen. So wurden Drogen für den einzelnen und Terror für revolutionäre Gruppen gesellschaftsfähig.
Inzwischen sind fast 50 Jahre vergangen. Wie hat sich die systemtranszendente Institutionenkritik praktisch ausgewirkt? Röhl, der Ex-Ehemann von Ulrike Meinhof, bringt dafür zahlreiche konkrete Beispiele. Ich nenne einige aus seinem merkwürdig lang vergriffenen, doch nun doch wieder neu aufgelegten Buch „Linke Lebenslügen“:
- „Befreiung“ der Sexualität durch Promiskuität (der One Night Stand ist „in“ geworden) und durch eine Sexualerziehung, die Kleinstkinder bereits sexuell stimulieren will, ferner durch Förderung von Homo-, Multi- und Transsexualität,
- „Befreiung“ von Bildungs- und Arbeitszwang,
- „Befreiung“ vom als restriktiv geltenden Rechtsstaat – auch durch Terror,
- „Befreiung“ von Wertordnungen und den sie vertretenden Institutionen, besonders den Kirchen, und Befürwortung von Drogen als Mittel, ein sinnlos gewordenes Leben zu bewältigen.
Wer von diesen gesellschaftstragenden Institutionen „befreit“, führt die Gesellschaft aber nicht zu Freiheit und Zufriedenheit, sondern in die Anarchie. Was wir ja leider zunehmend erleben.
Zu diesem inneren Verfall kommt zunehmend die Bedrohung durch einen radikalen Islam. Werden wir überleben?
Mag. theol und Dr. phil Elisabeth Deifel ist als Schwester Katharina bei den Dominikanerinnen eingetreten. Sie ist verwitwete Ehefrau und Mutter und hat das Lehramt für Latein und Griechisch. Sie war Professorin an der Pädagogischen Hochschule und ist heute in der Erwachsenenbildung tätig.