Auf den Spuren Raoul Wallenbergs

Wir kennen Raoul Wallenberg, wissen viel über sein Leben. Nur sein Tod muss im Nebulösen verbleiben, bis in Moskau tatsächlich alle Unterlagen über den in sowjetischem Gewahrsam umgekommenen schwedischen Diplomaten offengelegt sind. Bis dahin bleibt ungewiss, wie der schwedische Judenretter von Budapest in der UdSSR umkam.

Dabei ist auf einer aus Anlass von Wallenbergs 100. Geburtstag zu Wien abgehaltenen Konferenz – deren Ergebnisse nunmehr in einer von dem international bekannten Grazer Historiker Stefan Karner herausgegebenen, außerordentlich ansprechenden Publikation vorliegen – schon viel Dunkel ans Licht gehoben worden.

Bengt Jangfeldt von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften beleuchtet in dem Sammelband den familiären Hintergrund des aus einer der reichsten Familien Schwedens stammenden Kosmopoliten. Er war 1944 im Auftrag der amerikanischen Hilfsorganisation „War Refugee Board“ nach Budapest übersiedelt und ist dort als Legationssekretär der schwedischen Gesandtschaft seiner Rettungsmission nachgegangen: Nämlich in düsterer Schreckenszeit bei höchst gefahrvollem Einsatz das Leben Tausender Juden zu retten, die SS und ungarische Pfeilkreuzler zusammengetrieben und zur Deportation in Vernichtungslager vorgesehen hatten. Er stellt ihnen Schutzpässe aus und barg sie in Schutzhäusern.

Bild: Hagstromer&Qviberg Fondkommission AB; aus dem besprochenen Band

Szabolcs Szita, Leiter des ungarischen Holocaust-Dokumentationszentrums, leuchtet minutiös die Umstände des Zusammentreffens Wallenbergs mit der in Budapest einrückenden Sowjetarmee sowie seiner Verhaftung und Verbringung nach Moskau aus. Und der Moskauer Historiker Nikita Petrow vom dortigen Menschenrechtszentrum „Memorial“ zeigt auf, wie das stalinistische Repressionssystem funktionierte, dem der KGB-Häftling Wallenberg bis zum Tod ausgesetzt war. Er war in Moskowiter Aktenbeständen als „Kriegsgefangener“ geführt worden, ist es aber nicht wirklich gewesen.

Susanne Berger, die der schwedisch-russischen Wallenberg-Forschungsgruppe angehörte, nimmt kritisch das schwedische Auskunftsbegehren gegenüber sowjetischen Stellen unter die Lupe. Der deutsche Wallenberg-Biograph Christoph Gann untersucht die teils stichhaltigen, teils widersprüchlichen Zeugenaussagen über dessen Häftlingsdasein in Moskau und Gulag-Orten bis hin ins sibirische Workuta nördlich des Polarkreises.

32 Jahre alt war Wallenberg, als er  am 9. Juli 1944 als Erster Sekretär der schwedischen Gesandtschaft nach Budapest kam und dort unter schwierigsten Bedingungen sein segensreiches Wirken begann. Wahrscheinlich war er von Ivar Olsen, einem Schweden, der in Stockholm den „War Refugee Board“ vertrat, für diese Aufgabe angeworben worden. Olsen war aber auch Offizier des „Office of Strategic Services“ (OSS), des militärischen US-Geheimdienstes.

Es darf daher als einigermaßen sicher gelten, dass diese Doppelfunktion Olsens für Wallenberg bei den Sowjets zum Verhängnis geworden ist. Denn nachdem er – der Juden-Retter von Budapest – mit den vermeintlichen sowjetischen „Befreiern“ in Gestalt von Soldaten und Offizieren der Roten Armee in Kontakt gekommen war, die ihn zunächst zuvorkommend behandelten, dürfte ihn die sowjetische Spionageabwehr-Organisation SMERSCH (das Akronym SMERt SCHpionam  steht für „Tod den Spionen“) für einen amerikanischen Agenten gehalten haben. An diese waren er und sein ungarischer Fahrer Vilmos Langfelder überstellt worden.

Der Festnahme am 14. Jänner 1945 folgte laut Aktenlage im Zentralarchiv des Moskauer Außenministeriums die Anweisung des damaligen stellvertretenden Verteidigungsministers Nikolaj Bulganin an Marschall Rodion Malinowski, die Festgenommenen nach Moskau zu bringen. Am 25. Januar kommen die von einem Begleitkommando Bewachten mit dem Zug am Kiewer Bahnhof an, am 6. Februar ist Wallenberg Gefangener der Staatssicherheit (NKWD, später KGB) in der Lubjanka. Dort verliert sich seine und seines Fahrers Spur.

Ungewöhnlich war das damals ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Laut Karner, dem gewiss besten westlichen Kenner des stalinistischen Repressionsapparats und der russischen Archive, selbst jener des KGB, wurden mehr als 100.000 Ausländer als vermeintliche oder tatsächliche Spione von SMERSCH verschleppt, von den sowjetischen Organen verurteilt und landeten im Gulag. Zwischen 1947 und 1950 war die Todesstrafe abgeschafft, danach über Stalins Tod (1953) hinaus wieder eingeführt gewesen.

Nach ersten zögerlichen Auskunftsersuchen von Seiten Stockholms, auf die Moskau mit vorgeblicher Unwissenheit oder dem verschleiernden Hinweis reagierte, Wallenberg sei wohl in Ungarn ums Leben gekommen, blieb auch eine formelle Intervention des schwedischen Außenministeriums 1947 bei Wjatscheslaw Molotow unbeantwortet. Nach außen gab Schweden merkwürdigerweise die Auskunft, er sei wohl tot. Immerhin führte sowjetischen Quellen zufolge die Intervention dazu, dass Wiktor Abakumow – einst SMERSCH-Offizier, dann von 1946 bis 1951 als Minister für Staatssicherheit Chef des KGB-Vorläufers MGB – im Politbüro, dem er angehörte, aufgefordert wurde, Informationen über die „Liquidierung Wallenbergs“ zu liefern. Erst 1957 ließ Moskau mittels einer formellen Note Außenminister Gromykos offiziell verlauten, dass er „infolge eines Herzleidens gestorben“ sei: man habe ihn am 17. Juli 1947 in seiner Lubjanka-Zelle tot aufgefunden.

Viel später erst, nämlich während der Gorbatschowschen Glasnost-Periode, als man 1989 in der KGB-Zentrale angereisten Vertretern der Familie die sorgsam verwahrten Habseligkeiten Raoul Wallenbergs übergab, präsentierte man den vom Leiter der Sanitätsabteilung der Lubjanka, Oberstabsarzt A. L. Smolzow, den auf den 17.07.1947 datierten Totenschein. Weshalb dies zumindest für russische Stellen – die Generalstaatsanwaltschaft rehabilitierte ihn 2000 formell – als offizieller Todestag des schwedischen Diplomaten gilt.

Wassilij Christoforow, Leiter des Archivs des russischen Geheimdienstes FSB – des KGB-Nachfolgeorgans – setzt Zweifeln (s)eine für plausibel zu haltende Position entgegen. Die Zweifel hatten darauf gefußt, dass von damaligen sowjetischen Organen ausgestellte Totenscheine manipuliert worden sind. Karner: „Es gab einen Ukas Stalins, dass das Todesdatum in politischen Verfahren stets falsch anzugeben war.

Demnach hätten entsprechende Papiere, welche der Gromyko-Note Wahrheitsgehalt nach außen verschaffen sollten, nach dem Tod Smolzows (1953) – der auch den im FSB/KGB-Archiv vorhandenen handschriftlichen Bericht über Wallenbergs Tod angefertigt hatte – nicht nachträglich ausgestellt werden können. Zeugenaussagen, wonach Wallenberg noch nach 1947 am Leben gewesen sei – so hatte der slowakisch-karpatendeutsche Gulag-Häftling Anton Krüger einst Karner gegenüber zu Protokoll gegeben, Wallenberg sei im August 1950 im Lager 2 in Workuta tot aufgefunden und von ihm und einem armenischen Mithäftling begraben worden – tut Christoforow als „Kalte Kriegs-Propaganda“ ab. Man habe keine Dokumente außer den erwähnten gefunden, die weiteren Aufschluss böten. Immerhin aber gibt der FSB-Archivchef zu, dass auch er nicht mit Bestimmtheit sagen könne, ob der 17. Juli 1947 tatsächlich Wallenbergs Todestag gewesen sei.

Die vorliegende Veröffentlichung des „Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung“ (Band 28) stellt den jüngsten und zugleich aktuellen Forschungsstand zum Schicksal Wallenbergs dar. Dessen Leiter Karner kommt indes zu folgendem Schluss-Resümee:

„In Kenntnis der hier dargelegten Recherchen […] sowie vor allem auf Basis langjähriger Erfahrungen mit der Praxis sowjetischer Untersuchungsverfahren des KGB/MGB, wie sie sich aus den sowjetischen Akten erschließen, bin ich letztlich der Meinung, dass Wallenberg die Lubjanka im Juli 1947 nicht mehr lebend verlassen hat. Eine weitere Suche nach möglichen Aufenthalten Wallenbergs nach dem Juli 1947 ist damit obsolet. Wallenberg starb im Juli 1947 in der Lubjanka. Die Spuren zu den Umständen seines Todes, zu den internationalen Verflechtungen der Jahre 1945-1947, die sein Schicksal mit besiegelten und die Spuren zu den sowjetischen und schwedischen privaten und staatlichen Archiven, die diese Fragen zu beantworten in der Lage sind, bleiben allerdings weiterhin verwischt und müssen aufgedeckt werden.“ Dem ist (vorläufig) nichts hinzuzufügen.

Stefan Karner (Hg.): Auf den Spuren Wallenbergs; Innsbruck/Wien/Bozen (Studienverlag) 2015; ISBN 978-3-7065-5412-1; geb., 200 Seiten, 24,90 € Euro.

Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

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