Noch im Februar 2000 zeigten nach einer IMAS-Befragung 56 Prozent der Österreicher zumindest ziemlich starkes Interesse für innenpolitische Vorgänge; mittlerweile ist dieser Wert auf unter 30 Prozent gesunken. Und der aktuelle „Demokratiebefund“ der Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform verweist darauf, dass lediglich 28 Prozent der Österreicher – also nicht einmal ein Drittel! – Vertrauen in die heimische Politik haben.
Das Phänomen ist nicht auf Österreich beschränkt, wir haben es heute mit einer Krise der repräsentativen Demokratie in Europa zu tun, in unterschiedlichem Ausmaß zwar – die skandinavischen Länder etwa sind weniger stark betroffen – aber verkennbar ist der Trend keineswegs. Die Bürger fühlen sich nicht mehr repräsentiert, sie merken – nicht nur bei Ereignissen wie Stuttgart 21 oder bei der von der deutschen Regierung überfallsartig ausgerufenen Energiewende – dass über ihre Köpfe regiert wird, dass sie nicht mehr befragt werden und dass die periodischen Wahlen immer weniger Auswahl bieten, weil sich die Parteien immer mehr angleichen. Somit kommt es einerseits zu sinkender Wahlbeteiligung sowie andererseits zum Entstehen neuer Splitterparteien, von den Neos in Österreich über die AfD in Deutschland bis zu UKIP in England.
Es ist ein trauriger Befund, wenn man sich die Bilder vergegenwärtigt, die uns kürzlich wieder anlässlich des Falls der Eisernen Vorhangs vor 25 Jahren auf die Fernsehschirme gebracht wurden. Hundertausende haben damals einiges riskiert, um für Freiheit und Bürgerrechte zu demonstrieren. Zigtausende haben das auch vor rund einem Jahr auf dem Majdan in Kiew getan, bei unfreundlichen Temperaturen und unter Einsatz auch ihres Lebens. Die heutigen Wahlbeteiligungen – auch in den ehemaligen Ostblock-Staaten – zeigen, dass es in nur einem Vierteljahrhundert einer politischen Kaste gelungen ist, dem Volk sein Vertrauen in eine freiheitliche, selbstbestimmte Demokratie zu nehmen.
Einzige aktuelle Ausnahme und Lichtblick ist Rumänien, wo das Volk aufgestanden ist und den nicht favorisierten, spröden Klaus Iohannis gewählt hat, der als einziger glaubwürdig erscheint, mit der unerträglichen postkommunistischen Korruption aufzuräumen. Aber auch bei dieser sensationellen Wahl lag die Wahlbeteiligung nur bei knapp über 60 Prozent. Das heißt: Rund 40 Prozent der Rumänen sind gar nicht hingegangen, weil sie wohl angenommen haben, dass es ohnehin wieder der Sozialist Victor Ponta werden würde, der mit allerlei schmutzigen Tricks versucht hatte, das Wahlergebnis in seine Richtung zu beeinflussen.
Sind wir schon in der „Postdemokratie“, wie das Colin Crouch formuliert hat? Wo die Wahlkämpfe zu reinen Spektakeln und Inszenierungen verkommen und in Wahrheit die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht wird, von einem Kartell aus Politik und Bürokratie, die im Wesentlichen ihre eigenen Interessen vertreten; wo Parteisekretariate – nicht der Wähler – bestimmen, welche Personen in die Parlamente einziehen.
Typisch für diese Haltung ist etwa eine Aussage Joschka Fischerss in einem ZDF-Interview, in dem der ehemalige deutsche Außenminister davor warnte, wegen des Euro eine Volksbefragung anzusetzen, ein Plebiszit, bei dem der Souverän selbst über seine Zukunft entscheiden würde, denn – so Fischer – das könne „schief gehen“. Aus den gleichen Gründen wurde wohl auch keine diesbezügliche Befragung in Österreich durchgeführt, obwohl doch das der Herr Bundeskanzler per Brief in der „Kronen Zeitung“ versprochen hatte.
Gerade das Thema Europa wird als wichtigstes politisches Projekt am Bürger vorbei vorangetrieben; und wie das geht, hat schon 1999 der nunmehrige Kommissionschef Jean-Claude Juncker verraten: „Wir beschließen etwas, stellen es dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt“.
Und so haben also auch die österreichischen Parteien bislang praktisch jede Wahlrechtsreform in Richtung mehr Persönlichkeitswahlrecht oder direkte Demokratie gebremst. Wo kämen wir denn hin, wenn die Bürger etwa selbst darüber abstimmen dürften, ob das Wahlalter von 18 auf 16 heruntergesetzt werden soll, oder ob die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre verlängert werden soll, ob wir mit dem Geld der österreichischen Steuerzahler für die Schulden anderer Staaten haften sollen oder ob die Parteienfinanzierung verdoppelt werden soll. Alles offensichtlich hoch diffizile, hoch komplexe Fragen, über die nur bestens ausgebildete und geschulte Politiker entscheiden können, und nicht das blöde Volk.
Angesichts der Steuerpläne von SPÖ/ÖGB/Arbeiterkammer wurde seitens der Sozialisten neulich sogar eine Volksbefragung zum Steuerthema ventiliert, zweifellos eine Super-Idee: Fragen wir doch das Volk, ob es Steuern zahlen will oder nicht, oder noch besser, ob „die anderen mehr Steuern zahlen sollen“. Eine derartige Abstimmung ist vielleicht in der Schweiz vorstellbar, nicht jedoch in Österreich, wo die Parteien seit Jahren mit Steuerbestechung und Lügen das Wahlvolk unmündig, ja dumm halten. Deshalb entziehen sich bis auf weiteres bestimmte Themen hierzulande einem Volksentscheid.
Andererseits gibt es aber eine Reihe von Themen, bei denen man durchaus das Volk fragen könnte, etwa in der leidigen Frage „Nichtraucherschutz“, wo es mehreren Regierungen seit Jahren nicht gelingt, als einziges Land in Europa(!!), eine halbwegs zivilisierte Lösung zustande zu bringen.
Auch die Frage nach Studiengebühren – Ja oder Nein – könnte man durch eine Volksbefragung der politischen Blockade entziehen; ebenso wie die Frage nach Zugangskriterien für Universitätsstudien. Man könnte auch das Volk fragen, ob es damit einverstanden ist, dass österreichische Politiker Jahr für Jahr rund 200 Millionen Euro aus Steuergeldern für Eigenwerbung ausgeben (während die Unterrichtsministerin jammert, dass ihr 90 Millionen für Schulmieten fehlen – wahrlich grotesk!).
Und fragen wir doch die Bürger, ob sie neun verschiedene Landesgesetzgebungen wollen, mit neun verschiedenen Jagd,- Bau- oder Jugendschutzgesetzen. Oder fragen wir doch die Bevölkerung, ob wir wirklich 183 Nationalratsabgeordnete brauchen, oder ob es nicht weniger auch täten; und ob nicht der Bundesrat schon längst abgeschafft gehört und so weiter, und so fort – die Themen werden uns nicht ausgehen.
Prof. Dr. Herbert Kaspar, Chefredakteur der ACADEMIA
Dies ist eine erweiterte Fassung eines Kommentars aus der Dezember-ACADEMIA 2014.