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Die Stunde der Dilettanten

Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann hat ein erstaunliches Buch geschrieben (Daniel Kahnemann: „Schnelles und langsames Denken“ Verlag Siedler, original: „Thinking, fast and slow“ bei Farrar, Straus & Giroux). „Schnelles und langsames Denken“ ist ein literarisch-wissenschaftliches Meisterwerk über unsere geistigen Stärken und Schwächen, darüber, wie wir den Politikern, manchen Medien und natürlich der Werbung immer wieder auf den Leim gehen und wie leicht dies zu bewerkstelligen ist.

Kahnemann diagnostiziert bei menschlichen Entscheidungen zwei Systeme. System eins reagiert schnell aufgrund angeborener Fähigkeiten und verschiedener Erfahrungen. Es ist evolutionär entstanden, hilft uns beim raschen Bewerten, ist aber leider äußerst fehleranfällig und erzeugt kein Warnsignal, wenn es falsch liegt. Intuitive Antworten fallen uns spontan ein und wirken oft überzeugend, weil bei uns allen das System eins immer funktioniert.

System zwei erfordert zielgerechtes Denken. Es ist langsamer, anstrengender, arbeitet aber genauer und zuverlässiger und produziert oft warnende Fehlermeldungen.

Den Unterschied zwischen System eins und zwei zeigt ein simples Rechenbeispiel:

Jemand kauft für seinen Sohn einen Baseballschläger samt Ball um 11 €. Der Schläger kostet um 10 € mehr als der Ball. Wie viel kosten Schläger und Ball? System eins antwortet sofort aber falsch mit „Der Ball kostet 1 € und der Schläger 10 €“. Man muss das etwas mühsamere System zwei einschalten, was leider nur selten gelingt. Richtig ist: der Schläger kostet 10,50 € und der Ball 50 Cent.

Hannes Androsch, Andreas Salcher, Bernd Schilcher und andere sind typische System eins-„Bildungsexperten“. Das ist der Grund, warum die Bildungsdebatte in Österreich sehr oberflächlich, chaotisch, wenig fundiert und widersprüchlich abläuft. Konrad Paul Liessmann ist ein typischer System zwei-Bildungsexperte. Wer seine Publikationen und Interviews kennt, der weiß, was gemeint ist.

Es ist noch nicht lange her, da redeten einige Landeshauptmänner der so genannten „Westachse“ von „Modellregionen“ für eine Gesamtschule, was bei System eins-„Bildungsexperten“ auf Begeisterung stieß. Sehen wir uns einmal an, was das bedeutet:

Der Landeshauptmann von Vorarlberg, Markus Wallner, muss seine erste Wahl schlagen. Er kommt aus einer Region namens Walgau. Dieses schöne Tal samt Autobahn und Westbahnstrecke liegt zwischen den Städten Feldkirch und Bludenz. Was müsste geschehen, wenn man hier eine „Modellregion Gesamtschule“ errichten wollte? Eine Schule wohlgemerkt, die samt und sonders alle Schüler vom 6. bis zum 14. Lebensjahr beherbergt und unterrichtet, eine Volksschule also von 6 bis 14.

Es sei mir gestattet, alle Schulen im Walgau anzuführen, die von Schülern zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr besucht werden: Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium Bludenz, Mittelschule Bludenz, Allgemeine Sonderschule Bludenz, Mittelschule Großes Walsertal, Mittelschule Bürs, Mittelschule Frastanz, Mittelschule und Sporthauptschule Nenzing, Mittelschule und Sportmittelschule Nüziders, Mittelschule und Musikhauptschule Thüringen, Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium Feldkirch, Bundesrealgymnasium Schillerstraße in Feldkirch, Praxisschule Feldkirch, Mittelschule Feldkirch Levis, Mittelschule Feldkirch Oberau, Mittelschule Institut St. Josef.

Ausnahmslos alle diese genannten Schulen müssten in eine Gesamtschule umgewandelt werden, und die Unterstufen der erwähnten Gymnasien müssten aufgelöst werden. Ein Insider fragte bei einem der Landeshauptmänner an, wie denn die Sache einer Modellregion logistisch ablaufen solle. Das sei doch ein schwer zu lösendes Projekt. Ein weiteres Problem seien Menschen in den Städten, die eine Zerstörung ihrer historisch gewachsenen Gymnasien nicht zulassen würden. Das aber wäre eine unabdingbare Voraussetzung für die Bildung einer Modellregion „gemeinsame Schule“.

Die Antwort war kurz und ergreifend, dass keine konkreten (in Wahrheit gar keine) Pläne vorlägen.

Wer öffentliche Diskussionen mit „Bildungsexperten“ verfolgt, stellt schnell fest, dass jede Diskussion augenblicklich in eine schludrige Strukturdebatte samt Warnung vor den „Blockierern“ mündet. Eingestreut werden so gut wie immer Plattitüden wie etwa: „Man soll doch endlich Scheuklappen und Ideologien ablegen“.

Die drei heiligen Regeln bei derartigen System eins-Debatten lauten:

  1. Niemals über Strategien sprechen, wann, wo und vor allem wie man Modellregionen für eine „gemeinsame Schule“ eine „bessere Schule“, eine „gerechte Schule“ errichten soll. Es würde sich nämlich rasch herausstellen, dass jeder der Politiker sofort die Finger davon ließe, wenn er bemerkte, was er sich da konkret aufhalste (siehe oben).
  2. Niemals über konkrete Inhalte, Lehrpläne usw. sprechen, denn das könnte in eine fundierte inhaltliche Debatte (System zwei) münden, und das will kein „Experte“. Wenn sich das nicht vermeiden lässt, dann ist der Zusatz angebracht, dass man dieses und jenes nicht lernen müsse, weil man es im Internet nachlesen kann. Eine ehemalige Unterrichtsministerin meinte einmal, dass es nicht notwendig sei, die fünf Bücher Mose zu kennen, das könne man in jedem Lexikon und im Internet finden.
  3. Niemals auf Lehrerbeschimpfung verzichten! Die Methode Andreas Salcher zieht immer.

Wäre ich Politiker oder Gewerkschafter, ich würde jede Forderung nach einer „neuen Schule“, nach einer „gerechten Schule“, nach einer „gemeinsamen Schule“, nach einer „Schule für alle“ sofort begrüßen, um den System eins-„Experten“ den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Gleichzeitig würde ich mit erhobenen Augenbrauen und voll Begeisterung ein Konzept für eine praktikable Strategie einfordern und die Frage anhängen, wie denn eine „gerechte Schule“ auszusehen habe, wenn die Schüler nur an 45 Prozent aller Tage im Jahr die Schule besuchten. 55 Prozent der Tage sind die lieben Kleinen zu Hause. Das ist doch höchst ungerecht! (Immer von Gerechtigkeit reden, auch wenn es unsinnig ist!)

Selbstverständlich müssten die Schulbesuchstage wieder bis an die 60 Prozent angehoben werden, das sei eine unabdingbare Voraussetzung für mehr Bildungsgerechtigkeit. Spätestens ab dieser Forderung wäre auch schon das Ende der ideologischen Fahnenstange erreicht, denn zurzeit ist keinem einzigen österreichischen Politiker und keinem einzigen System eins-„Experten“ zuzutrauen, diesen Stier bei den Hörnern zu packen, geschweige denn auch nur eine einzige praktikable Idee zu entwickeln.

Die von System eins-Bildungsreformern und meist links angesiedelten „Experten“ regelmäßig unterstellten „Denkverbote“ der „Blockierer“ existieren nicht, haben auch nie existiert. In Wahrheit liegt eine Denkbremse (System eins) bei den Möchtegern-Reformern vor, denn bis heute liegt kein einziges praktikables Konzept für eine flächendeckende Gesamtschule vor.

Ich unterstelle unseren System eins-„Bildungsexperten“ in Österreich allen Ernstes einfallslose Oberflächlichkeit und denjenigen, die ständig die Lehrer und ihre verantwortungsvolle Arbeit öffentlich verunglimpfen, unerträgliche Arroganz, um härtere Ausdrücke zu vermeiden. Vielen Politikern, wohlgemerkt nicht allen, die sich bisher an der Bildungsdebatte beteiligt haben, unterstelle ich Ahnungs- und Hilflosigkeit. In der Schule nennt man so etwas „blank sein“.

Mag. Dr. Rudolf Öller hat an einem öffentlichen Gymnasium und einem Privatgymnasium Biologie, Physik, Chemie und Informatik unterrichtet. Er ist promovierter Genetiker der Universität Tübingen und ehrenamtlich Rettungssanitäter und Lehrbeauftragter des Roten Kreuzes.

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