Am 28. 7. 2014, mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, beginnt der dritte Balkankrieg, der sich bereits nach wenigen Tagen zu einem europäischen Flächenbrand ausweitet. Ob Hundertjähriger oder Dreißigjähriger Krieg, ob amerikanischer Bürgerkrieg oder russisch-japanischer Krieg 1904/05 – die Frage nach einer Kriegsschuld wird nie gestellt. Auch bei den sehr zahlreichen Nahostkriegen der zurückliegenden Jahrzehnte wird die Benennung eines Schuldigen stets vermieden. Der Erste Weltkrieg bildet in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Ausnahme.
Insbesondere für Historiker deutscher Zunge besteht kein Zweifel daran, den Furor teutonicus für den Ausbruch der Feindseligkeiten verantwortlich zu machen. Der Kaiser wars!
So gesehen, legt der australische Historiker Christopher Clark mit seinem viel beachteten Buch zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ein revisionistisches Werk vor. Denn er kommt er zu keiner eindeutigen Schuldzuweisung. Vielmehr beschreibt er die Geschehnisse, die zu dieser europäischen Katastrophe geführt haben, als eine hochkomplexe Gemengelage von einander widerstrebenden Zielen, persönlichen Befindlichkeiten, Fehleinschätzungen, Verbindlichkeiten und unglücklichen Zufällen.
Clark misst den Ereignissen auf dem Balkan – anders als viele seiner Kollegen – aus vielerlei Gründen größte Bedeutung zu. Die Politik Serbiens bildet für ihn keine unbedeutende Randerscheinung, sondern ist ein zentrales Element der am Ende zum Krieg führenden Ereignisse. Nicht zufällig beginnt er seine fast 900 Seiten umfassenden Ausführungen mit dem Mord am Österreich freundlich gesinnten serbischen König Alexander Obrenovi? und dessen Frau anno 1903.
Russland konzentriert seine außenpolitischen Ambitionen – nach dem Debakel im Krieg gegen Japan – auf Europa. Die „türkischen Meerengen“, die Dardanellen, waren und sind für Russland von größter Bedeutung. Eine Blockade dieser wichtigen Meeresstraße – durch welche Macht auch immer – bedeutet schweren wirtschaftlichen Schaden.
Somit erlangt der Balkan große Bedeutung, zumal das Osmanische Reich sich durch den Kauf britischer Schlachtschiffe eben anschickt, die Kräfteverhältnisse im Schwarzen Meer entscheidend zulasten Russlands zu verändern. Auf diesem Pulverfass muss es folglich zur Kollision russischer und österreichisch-ungarischer Interessen kommen (Bosnien-Herzegowina wird 1908 von der Donaumonarchie annektiert, was zu einer veritablen Krise führt).
Auch die gerne kolportierte Sage von der angeblichen Herausforderung der britischen Seemacht durch das ambitionierte deutsche Flottenbauprogramm wird von Clark zurechtgerückt: Niemals wurden die deutsche Schiffe zu einer ernsthaften Bedrohung für die Royal Navy. Dass bald nach der Jahrhundertwende die deutsche Industrie die britische im Hinblick auf die Produktion von Kohle, Eisen und Elektrizität überrundet und das Reich auch im internationalen Handel auf der Überholspur ist, beeinflusst die britische Deutschlandpolitik zweifellos weitaus stärker.
Den 1887 von Bismarck initiierten deutsch-russischen Rückversicherungsvertrag auslaufen zu lassen, ist zweifellos ein schwerer Fehler der deutschen Regierung, der auf einer krassen Fehleinschätzung ihrer außenpolitischen Optionen beruht. Damit ist der Weg zur „Einkreisung“ des Reiches frei – die auch prompt folgt. Die Aussicht darauf, Deutschland einen Zweifrontenkrieg aufzwingen zu können, bestimmt fortan die militärischen Überlegungen aller später am Krieg beteiligten Mächte.
Clark analysiert die politischen Strukturen der beteiligten Mächte und stellt deren wichtigste Protagonisten vor. Österreich-Ungarn, oder besser: Dessen komplizierte politische Ordnung, seine Schwerfälligkeit und seine beklagenswerte militärische Verfassung, kommen dabei nicht gut weg. Die auf österreichischer Seite handelnden Akteure sind weniger entschlossen und in ihren Einschätzungen weniger treffsicher als jene auf englischer oder französischer Seite.
Dass auf dem Weg zur Kriegserklärung an Serbien ausschließlich ein lokaler Konflikt ins Auge gefasst und der „Plan R“ – also ein Kriegseintritt Russlands – nahezu vollständig aus den Überlegungen der politischen und militärischen Führung ausgeblendet wird, ist erstaunlich. Wie sich alsbald zeigt, ist Österreich-Ungarn einer derartig großen Auseinandersetzung auch in keiner Weise gewachsen.
Der Autor zeichnet das Bild eines nach und nach entstehenden, unentwirrbaren gordischen Knotens. Als der fertig geschürzt ist, meinten alle Beteiligen, dass nur noch durch einen (kurzen!) Krieg seine Entwirrung zu bewerkstelligen sei. Clark weist darauf hin, dass es ein Fehler ist, die Ereignisse von 1914 und die Jahre zuvor nur aus der Perspektive des nachgeborenen Wissenden zu betrachten. Die Politik jener Zeit ist eben – auf allen Seiten – durch Prognosen und Erwartungen geprägt, die zum Teil auf krassen Fehleinschätzungen beruhen.
Hätten die Hauptakteure gewusst, dass ein europäischer Krieg zu diesem Ergebnis führt (20 Millionen Tote, 21 Millionen Verwundete, drei zerstörte Reiche und der Aufstieg der schlimmsten Totalitarismen des 20. Jahrhunderts), wären sie mit Sicherheit zu politischen Lösungen gekommen. Denn nicht nur die Mittelmächte, sondern ganz Europa erleidet in diesem Krieg eine verheerende Niederlage.
Der Preußen-Experte Clark präsentiert keine Apologie für Deutschland und Österreich-Ungarn. Aber er macht deutlich, dass einseitige Schuldzuweisungen an deren Adresse verfehlt sind. Daran, dass der folgende „Friedensvertrag“ von Versailles den Keim für die zwanzig Jahre später folgende Katastrophe bildet, bestehen für ihn keine Zweifel. Prädikat: lesenswert!
Die Schlafwandler Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
Christopher Clark
Deutsche Verlags-Anstalt 2013
895 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-421-043959-7
€ 39,99,-
Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.