Der aktuelle Austragungsort der Fußball-WM Brasilien hat schon weit vor dem Anstoß zum Eröffnungsspiel gezeigt, dass sich die Menschen nicht mehr mit dem Prunk und Protz sündteurer Sportpaläste bluffen lassen. Es wird zwischen echter und inszenierter Euphorie klar unterschieden. Die von den Machern und Mächtigen vorgegebenen Instruktionen werden von den Menschen in immer größerem Maße ignoriert.
Wenn man als Journalist oder Sporttourist mit offenen Augen durch die Straßen der Austragungsorte der Fußballweltmeisterschaft Brasiliens geht, erkennt man, wie in vergleichbaren anderen Ländern, die Ergebnisse vielschichtiger wirtschaftlicher und sozialer Ausbeutung der Menschen. Was ist passiert? Ein zu wenig beachteter „Side-Effekt“ der Globalisierung betrifft den Sport und die damit verbundenen Rundumgeschäfte, die sich in Form von hemmungslosem Ausreizen möglicher finanzkapitalistischer Transaktionen manifestieren.
Diese Machinationen der Machthaber und Macher haben die Menschen munter gemacht und die Augen für soziale Schieflagen und Ungerechtigkeiten geöffnet. Die allerorts aufbrechenden Notlagen in breiten Schichten der Bevölkerung bringen das Fass in immer mehr Ländern zum Überlaufen. Die soziale Bombe tickt nicht nur in Brasilien oder in anderen Ländern, die man bisher als Entwicklungsländer bezeichnete. Die nordafrikanischen Revolutionsstürme, angefacht durch soziale Netzwerke, haben weder die Hoffnungen auf Demokratisierung erfüllt, noch sind die Rechnungen der Brandstifter mit durchsichtigen marktstrategischen Interessen aufgegangen.
Wenn man die aufwendige Eröffnungsveranstaltung als Feigenblatt hernimmt, um so Manches zu verstecken, was im Lande, um es gelinde zu sagen, nicht rund läuft, da fehlt viel an zudeckendem Stoff, um die Träume von einer heilen Welt künstlich und künstlerisch aufrecht zu erhalten. Eine Polarisierung in Form von Fan- und Frustbürger formiert sich weltweit. Der Blick auf die durchaus spannenden Spiele zeigt wechselweise ein lachendes und ein weinendes Auge, welche sich nur bei einem Tor der favorisierten Mannschaft zum Bild des kollektiven Jubels vereinigen.
Die Bevölkerung in vielen Ländern zeigt immer mehr Zivilcourage, da helfen keine noch so gut inszenierten Events, wie es auch die aktuelle Fußball-Weltmeisterschaft ist
Wir stehen vor einer gespaltenen Gesellschaft – das ist nichts Neues, könnte man flapsig sagen. Nimmt man jedoch die gesellschaftspolitischen Analysen ernst und behält sich selbst ein Gespür für signifikante Wertverschiebungen und Verwerfungen in der menschlichen Gemeinschaft, dann wird man sehr bald erkennen, dass die klassischen Macht- und Vormachtmechanismen bei den Menschen schon lange nicht mehr wirken. Die Lämmer, für die manche Mächtige die Bürger hielten, schweigen nicht mehr, sie fordern ihre Rechte, gehen auf die Straße, lehnen faule Kompromisse und dumme politische Ausreden ab. Die mutigen Wutbürger nehmen in selbstorganisierender Manier das Gesetz des Handelns in die Hand. Die Menschen sind nicht mehr nur jubelnde Kulisse bei einem Endspiel, dessen Ausgang, wie auch jener der gesellschaftlichen Entwicklung, gleichermaßen unsicher ist. Sicher ist nur: So wie es jetzt aller Orts schief läuft, kann und soll es nicht weiter gehen.
Dr. Franz Witzeling; Psychologe und Soziologe