Wie unzählige Male zuvor schon „zur Verteidigung der Einheit des Vaterlandes Italien“ rückte soeben die Bozner Staatsanwaltschaft aus, begleitet von Männern der ROS (Raggruppamento Operativo Speciale), einer Sondereinheit der Carabinieri zum Kampf gegen die Organisierte Kriminalität. Am Sitz der Partei „Süd-Tiroler Freiheit“ (STF) beschlagnahmte das römische Machtinstrument Computerdateien und schriftliche Unterlagen. Der vorgegebene Grund für die staatsanwaltschaftliche Ermittlung und das auf Abschreckung und Einschüchterung zielende martialische Einschreiten der dem Militär unterstehenden kasernierten Polizeitruppe: Verdacht der Unterschlagung und einer Manipulation.
Im Spätsonner 2013 hatte die STF mehr als 400.000 Briefe verschickt und dabei den für den Versand von Wahlwerbung beanspruchten üblichen vergünstigten Tarif von 0,04 Euro pro Briefsendung entrichtet. In den Briefen befanden sich Wahlkarten zur Teilnahme an dem von der STF im Herbst 2013 initiierten und durchgeführten Selbstbestimmungs-Referendum für Südtirol. Knapp ein Jahr später wirft die Staatsanwaltschaft der Partei neben „Missbrauch der Posttarife“ – angebliche „Betrugssumme“ 600.000 Euro – „Manipulation des Abstimmungsergebnisses“ vor.
Diese Vorwürfe sind absurd. Die Unterlagen für das Selbstbestimmungs-Referendum wurden vor der Südtiroler Landtagswahl verschickt, die im Oktober 2013 stattfand. In der plausiblen Absicht, die Selbstbestimmungsfrage zu einem zentralen Wahlkampfthema zu erheben, worauf in allen STF-Stellungnahmen unmissverständlich hingewiesen wurde. Die Briefe wurden von der Postverwaltung vorab begutachtet und ausdrücklich genehmigt, sie mussten als Wahlwerbung deklariert werden. Wäre dies nicht rechtens gewesen, hätte die Post die Briefe nicht verschickt, und die Bozner Staatsanwaltschaft hätte bereits damals umgehend alle Briefe beschlagnahmt.
Absurd auch der Manipulationsvorwurf: Selbstverständlich war die Abstimmung geheim, alle an die STF als Veranstalter zurückgelangten Briefe sind getrennt von den Wahlkarten ausgezählt worden, sodass die Absender nicht rückverfolgbar waren. Die Auszählung fand öffentlich, zudem im Beisein von Journalisten, statt, die somit die Wahrhaftigkeit der befolgten Abstimmungsmodalitäten bezeugen können, welche unter https://www.youtube.com/watch?v=GlEVNTfpYRI einsehbar sind.
Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, welches in ein Strafverfahren gegen eine Partei mündet, geschieht nicht zufällig, sondern stellt einen politisch motivierten Schlag gegen die STF mit dem Ziel dar, das von ihr nachdrücklich ins öffentliche Bewusstsein gerückte Selbstbestimmungsbegehr nachträglich zu kriminalisieren.
Es dürfte sich nicht um ein aus eigenem Antrieb (des leitenden Staatsanwalts Guido Rispoli) heraus eingeleitetes Vorgehen gehandelt haben, sondern auf einen Wink aus Rom hin geschehen sein. Dort ist die politische Klasse mehr als besorgt über Selbstbestimmungsbewegungen wie jene in Südtirol, hinter der nicht alleine die STF und die Freiheitliche Partei Südtirols (FPS) stehen, sondern auch der traditionsreiche Südtiroler Schützenbund (SSB).
Immerhin führt auch die seit 1948 regierende Südtiroler Volkspartei (SVP) das Selbstbestimmungsverlangen noch in ihrem Parteistatut, und wiewohl sie weiter als alle anderen Südtiroler Parteien davon entfernt ist, die Selbstbestimmungsfrage aufzuwerfen, kann sich Rom dessen nicht wirklich sicher sein.
Gefahr droht auch aus der Nachbarschaft Südtirols. So fand die staatsanwaltschaftlich angeordnete Razzia bei der STF vier Tage nach dem mehrheitlichen Beschluss des Regionalrats von Venetien statt, für das Veneto ein formelles Selbstbestimmungs-Referendum anzusetzen. Dort hatten im Frühjahr in einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, an dem sich 2,36 Millionen Wahlberechtigte (73 Prozent der Wählerschaft der Region) beteiligten, 89 Prozent auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?", mit einem klaren „Ja“ geantwortet.
Woraufhin die Staatsanwaltschaft in Brescia auf Geheiß Roms kurzerhand unter dem Vorwurf des „geplanten bewaffneten Umsturzes und der Sezession“ führende Funktionäre der Unabhängigkeitsgruppierungen „Raixe Venete“, „Liga Veneta“, „Governo Veneto“ und „Nasion Veneta“ festsetzte und/oder Gerichtsverfahren gegen sie einleitete. Davon unbeeindruckt ergriff in unmittelbarer Nachbarschaft zum Veneto Lega Nord-Chef Matteo Salvini die Initiative für „ein offizielles Unabhängigkeitsreferendum“ in der Lombardei; es soll am 18. September stattfinden, dem Tag, an dem in Britannien das Referendum über Schottlands Souveränität vorgesehen ist.
Hatten in Südtirol am eindrucksvollen Referendum im Herbst 2013, initiiert und organisiert von der STF, 61.189 Wahlberechtigte aus der deutschen und aus der ladinischen Volksgruppe teilgenommen, von denen 56.395 – das sind 92,17 Prozent – für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts votierten, so zeigte eine von der Wiener „Karmasin Motivforschung“ durchgeführte Umfrage unter 700 Befragten deutscher und ladinischer Muttersprache in Südtirol, dass sich 54 Prozent die Unabhängigkeit und nur 26 Prozent für den Verbleib bei Italien aussprachen; 20 Prozent machten keine Angabe.
Nachgerade sensationell sind überdies die Ergebnisse der von der überparteilichen Bozner „Arbeitsgruppe für Selbstbestimmung“ in Auftrag gegebenen repräsentative Umfrage zu nennen, welche das italienische Meinungsforschungsinstitut DEMETRA aus Mestre (bei Venedig) in ganz Italien durchführte. Demnach befürworteten 71,8 Prozent der befragten Italiener das Recht auf politische Selbstbestimmung der Südtiroler. 74 Prozent sprachen sich zudem ausdrücklich für das Recht von Schotten und Katalanen auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit aus.
All das muss(te) in Rom alle politischen Warnlampen angehen lassen, weshalb das staatsanwaltschaftliche Vorgehen gegen die Südtiroler „Los-von-Rom“-Partei STF seinen Sinn erhält. Ebenso legen die Brüssler EUrokraten ob mannigfaltiger Selbstbestimmungs- und Unabhängigkeitsregungen die Stirn in Falten, zumal sie mit Bangen die Entwicklung besonders in Schottland und Katalonien verfolgen.
Unlängst führte ihnen eine machtvolle und farbenprächtige „Selbstbestimmungskundgebung der Völker und Regionen Europas“ die Gefahr vor Augen. Wenngleich Mainstream-medial verschwiegen, nahmen daran gut 25 000 Menschen teil und unterstrichen den Willen von Flamen, Katalanen, Schotten, Basken, Venetern, Lombarden und Südtirolern zur Selbstbestimmung. Ihr Marsch quer durch den EU-Institutionensitz Brüssel unter der Losung „Europe, we will vote!" signalisierte, dass auf nicht zu unterschätzenden Terrains Europas Umbrüche hin zu freien, selbstbestimmten und selbstverwalteten neuen Gemeinwesen im Gange sind, organisiert von Repräsentanten volklicher Entitäten, die gewillt sind, sich nicht mehr mit Halbfreiheiten abspeisen zu lassen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Solange die Südtiroler darauf bauen konnten, dass die italienische „Autonome Provinz Bozen-Südtirol“, ihr nach dem Ersten Weltkrieg annektierter Teil des nach sechs Jahrhunderten des Bestands zerrissenen Habsburgerkronlandes, infolge einer Entwicklung hin zu einem „Europa der Regionen“ wieder mit dem österreichischen Bundesland Tirol „vereinigt“ werden könnte, vertrauten sie auf die „Sammelpartei“ SVP, die ihnen das auch für die Zukunft in Aussicht zu stellen sucht. Doch je stärker und länger offenkundig ist, dass das Nationalstaatsprinzip in der EU allen Regionalisierungsbemühungen Grenzen setzt und ihnen in ihrer Heimat von vom römischen Zentralismus geprägten Italienern und in den staatlichen Behörden von Amtswaltern immer und immer wieder das „Siamo in Italia“ entgegengeschleudert wird, desto zahlreicher werden die Befürworter des Selbstbestimmungsverlangens.
Die historisch-politischen Erfahrungen mehrerer Generationen der Angehörigen der deutschen und ladinischen Volksgruppe mit Rom und in Italien (nicht erst, aber vor allem seit dem Ersten Weltkrieg) begünstigten diese Entwicklung. Sie ist Ursache dafür, dass „BBC“, „Chicago Tribune", „Russia Today“ und andere Publikationsorgane auf der ganzen Welt schon über den „wiedergekehrten Separatismus im Alto Adige" berichteten.
Die Südtirol-Linie des Außenministers Kurz
Und was sagt die „Schutzmacht Österreich“ dazu? Der Jus-Student Sebastian Kurz, der in der Regierung Faymann-Spindelegger das Ressort „Europa, Integration, Äußeres“ (ehedem Außenministerium) innehat, beantwortete mit Schreiben vom 17. Juni dieses Jahres (Az: BMeiA-XX.2.1 3.33/0027-II.2/2014) einen wegen seiner Aussage auf dem SVP-Parteitag in Meran, allenfalls „Ewiggestrige“ stünden gegen die (von der SVP propagierte) „Vollautonomie“, gerichteten Brief, den Roland Lang, Obmann des Südtiroler Heimatbundes (SHB), Sepp Mitterhofer, ehemaliger Südtiroler Freiheitskämpfer und SHB-Ehrenobmann sowie Univ. Prof. Dr. Erhard Hartung, Sprecher der „Kameradschaft der ehemaligen Südtiroler Freiheitskämpfer“ an ihn gerichtet hatten.
Kurz schrieb: „Österreich hat den Anspruch der Südtiroler auf das Selbstbestimmungsrecht immer unterstützt, wodurch es schließlich auf Grundlage des Pariser Vertrages zu einer zwischen Österreich und Italien (mit Zustimmung Südtirols) akkordierten Lösung mit einer Streitbeilegungserklärung an die Vereinten Nationen gekommen ist. Österreich ist dabei stets in engster Abstimmung mit Südtirol vorgegangen. Träger des Selbstbestimmungsrechts sind die Südtiroler selbst. Politisch handeln sie durch ihre demokratisch legitimierte Führung.
Die Bundesregierung ist mit der Südtiroler Landesregierung in laufendem Kontakt. Letztere setzt sich stark für die Festigung und Weiterentwicklung dieser Autonomie ein und wird darin von Österreich mit Überzeugung unterstützt. Die Südtirol-Autonomie ist damit ein konkreter Ausdruck des Gedankens der Selbstbestimmung. Basierend auf dem gemeinsam mit den Südtirolern ausverhandelten Südtirol-Autonomiestatut von 1972 enthält sie ein hohes Maß an Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung und ermöglicht es somit den Südtirolern, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln.
Es handelt sich um eine konkret wirksame und praktisch ausbaufähige Selbstbestimmung. Die Südtirol-Autonomie wurde dank internationaler Unterstützung (z.B. VN-Generalversammlung) erreicht und wurde auf vielfältige Weise abgesichert. Die Autonomie funktioniert also in einem größeren internationalen Umfeld und wurde zu einem Bestandteil der europäischen Friedensordnung. Selbstbestimmung kann auf verschiedene Weise verwirklicht werden, die Südtirol-Autonomie mit ihrem hohen Maß an Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung ist eine besonders gelungene Form der Selbstbestimmung.
Darüber hinaus hat der europäische Integrationsprozess viele Aspekte des Konzepts „Grenze” obsolet gemacht und das Konzept der grenzüberschreitenden Regionen (Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino) gestärkt. Damit wird auch ein vereintes Tirol in moderner Form und aus einer zeitgemäßen Sicht ermöglicht. Neue Chancen für eine Zusammenarbeit im gesamten Raum des historischen Tirol werden ohne die Belastungen der Vergangenheit eröffnet. Es ist zu wünschen, dass Südtirol auf dem Weg der wirtschaftlich erfolgreichen und prosperierenden Region so wie bisher weiter geht.“
Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Österreich nunmehr vor dem Hintergrund der „Streitbeilegungserklärung“ von 1992 den Anspruch der Südtiroler als erfüllt ansieht. Wenn man dem Minister (damit der Regierung) folgt, so steht die seit 1948 regierende Mehrheitspartei SVP als „demokratisch legitimierte Führung“ stellvertretend für alle Südtiroler, die doch eigentlich „Träger des Selbstbestimmungsrechts“ sind.
Abgesehen davon, dass die SVP seit zwei Landtagslegislaturperioden nicht mehr Mehrheitspartei ist, ist es absurd, sie als Organ der Erfüllung des Selbstbestimmungsrechts anzusehen und die zwischen 1946 und 1992 mit Hilfe Österreichs erkämpfte Autonomie faktisch als Endzustand zu qualifizieren, in dem die Südtiroler in die Lage gesetzt seien, „ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln.“
Dagegen sprechen unzählige Maßnahmen Roms, das vom österreichischen Minister realitätswidrig gerühmte „hohe Maß an Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung“ sukzessive zu entwerten. Das ist für den römischen Zentralismus jedweder politischen Couleur tatsächlich „eine besonders gelungene Form der Selbstbestimmung“. Weshalb man die Aussage „Die Südtirol-Autonomie ist damit ein konkreter Ausdruck des Gedankens der Selbstbestimmung“ nur mehr als selbstbetrügerische Beschwichtigungsfloskel rubrizieren kann.
In dieselbe Rubrik gehört das „vereinte Tirol in moderner Form und aus einer zeitgemäßen Sicht“. Das ist Augenauswischerei. Selbstbestimmung für die Südtiroler kann eben nicht auf „verschiedene Weise verwirklicht“ werden, Herr Minister Kurz. Die adäquate Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ist allein mittels einer Volksabstimmung zielführend. Ihre Herbeiführung zu ermöglichen, wäre – neben dem Willen, den die Südtiroler gewiss aufbrächten, so ihre Parteien in dieser Frage zusammenfänden und zusammenstünden –pflichtschuldigste Angelegenheit der Politik des „Vaterlands Österreich“. Das führen SVP-Politiker allenfalls noch in Sonntagsreden im Munde.
Der Verfasser ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist