Briefe werden seitens der EU an Moskau geschickt, Gazprom droht die Gaslieferungen für den ukrainischen Markt einzustellen. Solange die Ukraine-Krise schwelt, weiß niemand so recht, ob die Gas-Waffe vielleicht wirklich eingesetzt wird. Der Markt, normalerweise ein guter Indikator, scheint diese Furcht nicht zu haben: Die Gaspreise sind derzeit so nieder wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Kurzfristig braucht Europa sich nicht zu fürchten, aber es stellt sich die Frage, wieweit es Europa notfalls gelingen könnte, auf andere Gaslieferanten umzusteigen. Es geht um rund 140 Mrd. Kubikmeter Russengas, die derzeit über die Ukraine Richtung EU gepumpt werden. Das sind etwas mehr als 30 Prozent der europäischen Gasversorgung. Diese Menge zu ersetzen ist unmöglich, zumindest in den nächsten Jahren. Einige Länder, wie Bulgarien (das seine Kraftwerke teilweise auch mit Öl betreiben könnte) oder die Baltischen Staaten, deren Gasversorgung zu 100 Prozent mit Russengas bewerkstelligt wird, würden bei Lieferschwierigkeiten schwer unter die Räder kommen. Österreich hängt zu 60 Prozent vom Russengas ab und verfügt zwar über große Speicherkapazitäten, die aber auch in einigen Monaten leer wären. Süd- und Westeuropa hätten dagegen kaum Probleme.
Welche Möglichkeiten gibt es überhaupt, Gasersatz zu finden? Verstärkte Förderungen in Norwegen, Holland oder Nordafrika kann man getrost vergessen, das wäre nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Die einzige Karte, die man wirklich ziehen könnte wäre Flüssiggas, zumindest theoretisch. Europa hat für den derzeitigen Bedarf weit überhöhte LNG (Flüssigerdgas)-Kapazitäten. Derzeit sind in mehreren europäischen Staaten (inklusive Türkei und Israel) 22 LNG-Terminals mit einer jährlichen Gesamtkapazität von 196 Mrd. Kubikmeter in Betrieb. Zudem befinden sich sieben Anlagen im Bau, die über ein Produktionsvolumen von rund 35 Mrd. Kubikmeter verfügen.
Die Terminals in Polen und Litauen sollen noch in diesem Jahr fertig gestellt werden. Für mehr als 30 Anlagen mit einer Kapazität von mehr als 160 Mrd. Kubikmeter gibt es Pläne. Im Vorjahr betrugen die europäischen Importe von verflüssigtem Erdgas 46 Mrd. Kubikmeter, was der niedrigste Wert seit 2004 ist. Damit verringerte sich auch die Einfuhr von LNG gegenüber dem Jahr 2011 um knapp die Hälfte. Mit den vorhandenen Kapazitäten könnte der Ausfall von Ukrainegas locker wettgemacht werden. Allerdings nur auf dem Papier, denn das Gas landet derzeit in Großbritannien, Spanien und Italien. Für eine Versorgung von Resteuropa fehlen die Pipelines. Mit einer Investition von etwa 25 Mrd. Euro könnte dieses Problem gelöst werden, was aber einige Jahre dauern würde.
Dazu kommt aber noch ein weiteres Problem, LNG ist am Weltmarkt ein eher rares – und sehr teures – Gut. Derzeit wird vor allem in den asiatischen Raum geliefert, weil dort höhere Preise erzielt werden. Aber da gäbe es ja noch Nordamerika, wo Gas fast im Überfluss vorhanden ist. Stimmt, aber es darf nicht exportiert werden, und es fehlen auch noch die LNG-Terminals (ein Terminal kostet die stolze Summe von 5 bis 7 Mrd. Euro). Ein erster US-LNG-Terminal wird 2016 Gas exportieren können. Weitere Kapazitäten sind zwar geplant, werden aber nicht vor 2020 größere Mengen auf den Markt bringen können. Sieben US-Terminals sind derzeit genehmigt, sie können 95 Mrd. Kubikmeter liefern, die aber vorrangig nach Asien gehen werden.
Was LNG kann
Erdgas wird bei minus 161 Grad Celsius flüssig und kann dann auf der Straße, der Schiene oder – wie meistens der Fall – per Schiff transportiert werden. Auf diese Weise können Länder, die viel Erdgas einführen, einfacher bei unterschiedlichen Förderstaaten einkaufen. Durch den Handel mit LNG wird der Erdgasmarkt, wenn auch langsam, weltweit einheitlicher. Es gibt aber immer noch drei Regionen, welche unterschiedliche Eigenheiten und Preise aufzeigen: Nordamerika, Europa und Asien.
Derzeit wird weltweit nur etwa ein Viertel des Erdgases als LNG gehandelt, weil Verflüssigung und Transport es teurer machen als die gasförmige Variante. Technische Verbesserungen haben jedoch dazu geführt, dass der Preis für LNG in den vergangenen Jahren gesunken ist und es zumindest beim Transport über weitere Strecken als konkurrenzfähig eingeschätzt wird. Belgien hat deshalb an der Nordsee LNG-Terminals für Spezialtanker gebaut. Dort wird der flüssige Treibstoff wieder verdampft und über Rohrleitungen zu den Kunden gebracht. Deutschland bezieht noch kein LNG, allerdings wird derzeit ein Terminal in Wilhelmshaven geplant.
Die immer wieder ins Spiel gebrachte Schiefergaskarte bringt auch keine Lösung. Derzeit scheint Schiefergas nur in Großbritannien, Polen und der Ukraine realistisch abbaubar zu sein, fast alle anderen EU-Staaten (darunter auch Österreich) haben Angst vor Schiefergas.
Und was passiert in der Ukraine? Das Land verbraucht ungefähr 50 Mrd. Kubikmeter, wovon 20 Prozent im eigenen Land gefördert werden. Die Ukraine kann das von Russland zu überhöhten Preisen gelieferte Gas derzeit nicht bezahlen. Eine Rechnung von zwei Mrd. Dollar ist offen, hier könnte die EU einspringen. Aber Moskau will weitere 10 Mrd. weil man auf der Krim den Flottenstützpunkt bis zum Jahr 2042 gepachtet hatte, und den Pachteuro bereits im Voraus bezahlt hat. Da die Krim nun russisch ist, möchte man dieses Geld wieder zurück haben. Hier könnte die EU keinesfalls einspringen, weil man damit die Annexion der Krim anerkennen würde.
Könnte man die Ukraine nicht auch aus der EU versorgen, ist ein mancherorts ventilierter Gedankenansatz. Das ist nur in sehr beschränktem Ausmaß möglich. Das derzeitige Pipelinesystem gäbe zwei Mrd. Kubikmeter in Richtung Ukraine her, weitere drei bis vier Mrd. wären möglich, scheitern jedoch bisher am Einspruch der Slowakei. Den Slowaken werden besonders gute Kontakte zu Gazprom nachgesagt, und diese will man nicht aufs Spiel setzen. Die Slowaken scheinen aber nun kompromissbereit.
Für Gazprom wäre der Ausfall der Ukraine dramatisch. Funktioniert die Ukraine-Schiene nicht mehr, müsste die Pipeline sofort abgeschrieben werden, was einen riesigen Bilanzverlust verursachen würde. Weil die russischen Inlandsgaspreise nicht kostendeckend sind, werden die Gewinne im Gasgeschäft ausschließlich durch Exporte erzielt.
Eines ist aber klar, fällt Russengas aus, werden die europäischen Gaskunden vermehrt zur Kasse gebeten.
Dieter Friedl ist Österreichs führender Energie-Journalist. Er gibt 14-tägig den unabhängigen elektronischen „Energiedienst“ heraus, der unter der E-Mail Adresse kontakt@elisabethgall.at abonniert werden kann. Der „Energiedienst“ informiert über alle Energiefragen.