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In der Ukraine kann es nun offenbar doch zu einem großen Brand kommen, nachdem es ein paar Tage lang nach einer relativen Beruhigung ausgesehen hatte. Ohne dass diesen großen Brand wohl jemand so beabsichtigt, ohne dass ihn jemand wirklich will. Aber die Akteure haben nicht wie ein Schachspieler gleich mehrere Züge weitergedacht, sie haben nicht die weiteren Konsequenzen überlegt. Wer ist schuld daran?
Vor der Prüfung der ukrainischen Schuldfrage machen wir einen ebenso aktuellen und zugleich lehrreichen Blick auf einen ganz anderen Kontinent. Ohne dass es in Europa sonderlich beachtet worden ist, tobt in Afrika von Monat zu Monat schlimmer ein immer heftiger werdender Krieg, der schon abertausende Todesopfer gefordert hat: Von Küste bis Küste ist südlich der Sahara ein erbitterter Kampf zwischen Moslems und Christen im Gang. Fast in jedem der Länder, die sowohl moslemisch wie auch christlich-animistisch sind, ist ein furchtbares gegenseitiges Abschlachten in Gang, das offenbar niemand mehr stoppen kann.
Wohl sind dort offensichtlich die Moslems die Brutalsten, sei es in Nigeria, sei es in Mali, sei es in Ägypten, sei es in Somalia. Aber auch die Christen schlagen mancherorts brutal zu, wie etwa in der Zentralafrikanischen Republik. Und niemand wird je genau sagen können, ob es ein Zuschlagen oder ein Zurückschlagen ist. Gleichzeitig wird vieles dieser religiösen Polarität auch von Stammes-Antagonismen und Kriminalität überlagert. Tatsache ist aber: Europa schaut weitgehend weg. Mit der kleinen Ausnahme Frankreichs, das in einigen seiner ehemaligen Kolonien zwar für Ordnung zu sorgen versucht, aber das ebenfalls zunehmend hilflos wirkt.
Diese sich immer mehr eskalierende afrikanische Dramatik wird in Europa freilich auch deshalb gerne übersehen, weil viele hier ja das Gefühl haben, von den Tugendwächtern würde jede Äußerung zu Afrika sowieso als rassistisch eingestuft. Umso gebannter blickt Europa auf die Vorgänge in der Ukraine. Aber hilflos ist es offensichtlich auch dort.
Wer aber ist schuld an den dortigen Eskalationen?
Es besteht kein Zweifel: Selbst wenn jedes Detail wahr wäre, dass die russische Propaganda verbreitet (und das am linken wie auch am rechten äußersten Rand hierzulande auch erstaunlich kritiklos geglaubt wird), so liegt doch eindeutig die Hauptschuld bei Russland. Denn nichts von den Vorgängen in der Ukraine rechtfertigt eine Intervention von außen, selbst wenn die erfindungsreiche Propaganda Russlands die volle Wahrheit sagen sollte.
Russland ist weder bedroht worden noch hat es in der Ukraine der letzten Wochen Menschenrechtverletzungen in einer relevanten Diskussion gegeben. Auch hat der UNO-Sicherheitsrat in keiner Weise eine Intervention auf der Krim und jetzt in der Ostukraine genehmigt.
Dennoch kann kein Zweifel mehr bestehen, dass auch in der Ostukraine die Besetzungen von Moskau durchgeführt worden sind. Wie auf der Krim sind es militärisch organisierte Einheiten, die in organisierter Art ein Gebäude nach dem anderen besetzen. Und da Marsmännchen auch in der Ukraine relativ selten sind, sind es wohl unzweifelhaft neuerlich russische Spezialtruppen.
Mit seinen Interventionen verstößt Moskau nicht nur gegen die vielen Chartas, die seit 1945 ausdrücklich ein Gewaltverbot beschwören. Moskau verletzt zusätzlich auch jenen Vertrag, in dem der Ukraine einst gegen eine Rückgabe ihrer Atomwaffen eine Unverletzlichkeit der Grenzen garantiert worden ist.
Selbst wenn man dem FPÖ-Wien-Sprecher Gudenus zustimmen mag, dass viele Berichte im Westen über die Vorgänge in Kiew einseitig waren, so rechtfertigt das dennoch niemals die Aktionen russischer Soldaten in der Krim und der Ostukraine. Jeder seriöse Vergleich zeigt: Im Grund sind der erste wie der zweite Weltkrieg mit ihrem millionenfachen Leid dadurch ausgelöst worden, dass jemand mit Gewalt Grenzen verändern wollte.
Das sollte auch ein Herr Gudenus begreifen.
(Apropos Vergleiche: Dieser Blog wird weiterhin vergleichen, auch wenn Vergleiche neuerdings von den Tugendwächtern auf den Index gesetzt worden sind. Denn in Wahrheit kann es ohne Vergleiche niemals eine historische Einordnung und eine seriöse Beurteilung geben).
Der Ruf nach einem Verzicht auf militärische Gewalt (außer in den genannten Situationen) kann aber nicht den zweiten in der Ukraine verletzten Grundsatz vergessen lassen: das Selbstbestimmungsrecht. Die Entscheidung, welchem Staat die Menschen eines Gebietes mehrheitlich zugehören wollen, steht in Wahrheit sogar höher als das demokratische Grundrecht zu entscheiden, ob die Partei X, Y oder Z diesen Staat regiert. Es kann keine echte Demokratie ohne Selbstbestimmung geben.
Dieses Grundrecht wird aber bis heute nicht allgemein anerkannt. Weder in der Ukraine noch im Westen. Auch in Russland übrigens nicht. Hier gilt nur: Putin schützt russische Interessen, wo auch immer sie bedroht sind. Aber er gewährt dort keine Selbstbestimmung, wo sie weg von Russland führen würde.
Das Recht auf friedliche Selbstbestimmung hat die Tschechoslowakei eingesehen – und fährt gut damit. Das hat Kanada eingesehen – und fährt gut damit. Das hat Großbritannien eingesehen – und wird damit wohl auch gut damit fahren.
Das akzeptieren aber Italien und Spanien sowie viele andere Staaten nicht. Für sie sind die Zahl der beherrschten Quadratkilometer und damit der „Nation“ noch immer zentral. Solche Länder fahren jedoch in Wahrheit von Venetien bis Katalonien schlecht damit. Diese Länder begeben sich mit der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts auf Dauer in Konflikte, die eigentlich ins 19. Jahrhundert gehören.
Es wäre ein gewaltiger Fortschritt, wenn es nicht nur in klugen Staaten wie Großbritannien oder der Tschechoslowakei ein klares völkerrechtliches Prozedere gäbe, wie solche Selbstbestimmung stattzufinden hat. Natürlich braucht es ein klares Quorum. Klar ist auch, dass ein Referendum jedenfalls mit ordentlicher Vorbereitungsfrist und in voller Artikulationsfreiheit für alle Beteiligten ablaufen muss. Die Völkerrechtler täten daher gut daran, sich viel stärker darauf vorzubereiten.
Wer hingegen wie Gudenus ernsthaft meint, die Voraussetzungen eines ordentlichen Referendums wären etwa in der Krim gegeben gewesen, dem ist nicht zu helfen. Noch weniger zu helfen ist ihm, wenn er das Gewaltverbot ignoriert. Wer ernsthaft Gewaltanwendung mit dem Wort „Selbstbestimmung“ rechtfertigt, der nimmt letztlich in Kauf, dass die halbe Welt in Brand gesteckt wird.
Seine Argumentationslinie gibt übrigens auch den antirussischen Kämpfern in Tschetschenien und anderen Regionen jede Legitimation in die Hand. Ob das den diversen Russenfreunden bewusst ist?
Eine qualitativ wichtige Vorstufe zur Selbstbestimmung wäre jedenfalls das Recht auf regionale Autonomie. Rechtzeitige und freiwillige Autonomie nimmt enorm viel Druck aus Konflikten. Aber dennoch wird noch immer selbst der bloße Ruf nach dieser mancherorts bestraft.
Erst in dritter Linie sind jene Staaten zu tadeln, die ungefragt und von keiner Seite aufgefordert der Ukraine eine Brücken- oder Neutralitätsfunktion geben. Denn mit solchen ungewünschten Vorschlägen widersprechen sie sowohl der Souveränität der Ukraine wie auch dem Selbstbestimmungsrecht.
Das Recht auf Selbstbestimmung muss ja wohl auch für die Ukraine selbst gelten. Wenn die Krim-Bürger ihre Zugehörigkeit frei wählen können, muss dasselbe Recht auch für die Ukraine beziehungsweise ihre Bewohner gelten.
Oder sollen nur Russen dieses Recht haben? Ist man etwa gar dafür, dass ein paar Staatsoberhäupter die Welt wieder nach ihrem Gutdünken einteilen sollen, so wie sie es auf dem Wiener Kongress oder in Jalta getan haben?
Wer die betroffenen Menschen als einzige letztlich relevante Entscheidungsgrundlage nicht ernst nimmt, der kehrt wieder zum Faustrecht zurück.
Hinter dieser grundlegenden Auseinandersetzung um Werte gibt es einige ganz erstaunliche Veränderungen in den staatlichen Beziehungen zu beobachten, deren Konsequenzen wir noch gar nicht abschätzen können: