Die Politik und der Großteil der „liberalen“ Medien, besonders jene in den USA und in Westeuropa, legen hinsichtlich Ungarns eine überaus harsche Gangart an den Tag. Die steht ganz im Gegensatz zur Zurückhaltung, mit der Link(sliberal)e autoritären Regimes wie in Russland, Weißrussland oder Rotchina – pardon der „Volksrepublik China“ – begegnen. Dies war schon zu registrieren, bevor die Magyaren im Frühjahr 2010 die acht Jahre währende Herrschaft von Sozialisten und Liberalen demontierten und „Gottseibeiuns“ Viktor Orbán und sein christlich-nationalkonservatives Parteienbündnis Fidesz-KDNP mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit ausstatteten.
Die Wähler wollten, dass Orbán mittels dieser „Revolution an der Wahlurne“ das an den Rand des Abgrunds gebrachte Land wieder in Ordnung bringt. Sie wollten auch die Wende von 1989/90 – und damit die Revolution von 1956 – vollenden.
Paul Krugman hatte nach Orbáns Erfolg in der „New York Times“ quasi die Wiedererrichtung einer postsowjetischen autoritären Herrschaft in Ungarn an die Wand gemalt. In dieselbe Kerbe schlug der britische „Guardian“, der Orbán einen autoritären Politiker nannte. Die „Washington Post“ ging sogar noch weiter und verglich Ungarn mit Weißrussland unter Aljaksandr Ryhorawitsch Lukaschenko und Russland unter Wladimir Putin.
Charles Gati, während des Volksaufstands 1956 junger ungarischer Journalist, der es nach seiner Flucht zum Politologie-Professor an der Johns Hopkins-Universität brachte, schrieb in einem Gastkommentar für die „Times“, dass Ungarn „nicht länger als westliche Demokratie“ bezeichnet werden dürfe. In der „Washington Post“ führten Gati und der ehemalige US-Botschafter in Ungarn, Mark Palmer, sowie Miklós Haraszti, Professor an der Columbia Law School, vormals OSZE-Beauftragter für Medienfreiheit, ins Treffen, die ungarische Demokratie sei in einem so beklagenswerten Zustand, dass Radio Free Europe (RFE) seine Berichterstattung über Ungarn wiederaufnehmen möge.
Man stelle sich vor: RFE-Ziel hätte nicht, wie einst im Kalten Krieg, die Destabilisierung eines kommunistischen Regimes in Budapest unter sowjetrussischer Kuratel sein sollen, sondern die Unterminierung der aus demokratischer Wahl hervorgegangenen ungarischen Regierung. Nicht allein das: In ihrem perfiden Kommentar riefen Gati, Palmer und Haraszti Washington auf, „das Gespenst der Tyrannei“ in Ungarn zu verscheuchen. Ungeachtet der Tatsache, dass sich Ungarn als Nato-Verbündeter unter Orbán im Gegensatz zu anderen dafür entschied, in Afghanistan zu bleiben.
Die Liste derer, die das publizistische Trommelfeuer auf Orbán und seine Mitterechts-Regierung in den USA eröffneten, ließe sich problemlos verlängern. In Europa, besonders in Österreich und Deutschland, hält es eine ganze Armada aus politisch korrekten „Lohnschreibern“ (Bertolt Brecht) in Zeitungen, Magazinen, Blogs und Internetforen sowie Moderatoren von Rundfunk und Fernsehen am Leben. Dabei tun sich ARD, ZDF und ORF besonders hervor, und bei den Blättern sind nicht einmal Qualitätszeitungen wie Frankfurter Allgemeine – namentlich deren Feuilleton – und Neue Zürcher Zeitung davor gefeit, bisweilen in den von „Ungarn-Experten“ wie Paul Lendvai und György Konrád dirigierten Mainstream-Chor einzustimmen.
Das begann bei der Verabschiedung der neuen ungarischen Mediengesetzgebung, setzte sich fort bei der am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen neuen Verfassung und hielt sich bis zum neuen Wahlgesetz, nach dem am 6. April das auf 200 Abgeordnete verkleinerte Parlament gewählt wird. Sie sehen – wie auch Politiker und EU-Kommissionsmitglieder – die Meinungsfreiheit und Demokratie in Ungarn bedroht. Und sie lassen sich nicht einmal dadurch beirren, dass das von Kritikern als Orbán-hörig bezeichnete ungarische Verfassungsgericht bestimmte Verfassungs-Passagen für nichtig erklärt hat. Es hat damit den Beweis geliefert, dass die Höchstgerichtsbarkeit so arbeitet, wie man es erwartet. Dennoch ist die ungarische Regierung zum Prügelknaben westlicher Publizisten geworden, die in Orbán einen quasi-faschistischen Tyrannen sehen, der mit der Bibel unter dem Arm herumläuft.
Und die Politik tut es ihnen gleich. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn nannte Ungarn einen „Schandfleck“. Ähnlich andere Sozialdemokraten respektive Sozialisten: Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments und sozialdemokratischen Spitzenkandidat für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, bezichtigte Orbán der „Säuberungspolitik“. Österreichische Sozialdemokraten und Grüne brachten – ebenso wie die christdemokratische luxemburgische Justizkommissarin Viviane Reding, eine ehemalige Journalistin – gegen Ungarn mehrmals ein EU-Vertragsverletzungsverfahren und Stimmrechtsentzug ins Spiel.
Unter Beifall des flämischen Liberalen Guy Verhofstadt rief der Charlemagne-Grüne Daniel Cohn-Bendit in Straßburg Orbán zu, er sei „auf dem Weg, ein europäischer Chavez zu werden, ein Nationalpopulist, der das Wesen und die Struktur der Demokratie nicht versteht". Unübersehbar stört es die hauptsächlich links der Mitte angesiedelten politisch korrekten Moral- und Tugendwächter, dass Orbán, unbeeindruckt von Kritik, das Land von Grund auf reformiert und umbaut, vor allem aber von dem im gewendeten Gewande des (Neo-)Liberalismus daherkommenden Postkommunisten zu befreien. Was ihn aber im politisch korrekten Europa verdächtig macht, wo man ihn – im günstigsten Fall – des „Cäsarismus“, „Bonapartismus“ oder „Horthyismus“ zeiht. Oder kurzum einen „Faschisten“ nennt.
Orbán-Biographie von Igor Janke
Von all diesen Invektiven hat sich der polnische Publizist Igor Janke nicht beeindrucken lassen. Der frühere Chefredakteur der polnischen Presseagentur PAP und BBC-Mitarbeiter, der jetzt dem unabhängigen Thinktank Freiheitsinstitut (Instytut Wolno?ci) in Warschau vorsteht, zeichnet in seiner soeben auf Deutsch erschienenen Biographie vielmehr ein unvoreingenommenes, die Wirklichkeit widerspiegelndes Bild des ungarischen Regierungschefs.
Denn ein Diktator ist Orbán beileibe nicht, sondern – vor allem anderen – ein ungarischer Patriot. Seiner Vaterlandsliebe, mit der er überall aneckt, ordnet Orbán vieles unter, wie Janke anhand zahlreicher Begebenheiten und Geschehnisse herausarbeitet. Schon als junger Mann hat Orbán – damals noch hinter dem Eisernen Vorhang – den Abzug der Sowjettruppen verlangt. Janke, damals als Vertreter des Unabhängigen Polnischen Studentenbunds anwesend, erlebte die Wirkung jener berühmten Rede Orbáns bei der erhebenden Umbettung der (unter János Kádár hingerichteten) Revolutionäre von 1956 im Juni 1989 in Budapest mit.
Dass er für Orbán und sein freiheitsliebendes, geschichts- und nationalbewusstes Volk Sympathien hegt, daraus macht Janke in seiner Orbán-Biographie keinen Hehl. Auch daraus nicht, dass sich Orbán „Einmischung jedweder Art“ von außen verbittet. Der Pole lobt ihn dafür, dass er angetreten ist, die Effizienz der staatlichen Strukturen und Institutionen sowie des Regierungshandelns zu steigern. Und dass Orbán in die Präambel der Verfassung die „Heilige Krone“ als Symbol der Wahrung der historischen Kontinuität der Nation hat schreiben lassen und dass der „Segen Gottes“ für deren Gedeih erfleht wird.
Das muss für alle religiös Indifferenten und jene, die sich „freisinnig“ dünken, geradezu als provokative Regelverletzung gelten, nicht aber für den polnischen Katholiken Janke. Dasselbe gilt für das Bekenntnis zur (ge)ein(t)en Nation Ungarn, im wohlverstandenen Sinne ihrer historisch, sprachlich und kulturellen Bande über die Grenzen des 1920 um zwei Drittel des damaligen Territoriums verkleinerten Ungarns hinaus. Dieses verständliche Trauma beherrscht noch immer das Bewusstsein vieler Magyaren.
Janke führt auch das in der ungarischen Verfassung Orbáns enthaltene Bekenntnis zur Familie – und im Gegensatz dazu den Ausschluss der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften mit der ehelichen Verbindung aus Mann und Frau – als christlich-zivilisatorischen Wert als rühmenswert an. Fürwahr: Die ungarische Verfassung spiegelt das christliche Erbe des Landes wider, sie definiert den Bund der Ehe in traditioneller Weise, und sie proklamiert, dass das Leben mit der Empfängnis beginnt. Janke hält auch fest, dass Orbán eine Schuldenbremse fixieren hat lassen und den Forint, ungarisches Zahlungsmittel seit 700 Jahren, zum Ärger Brüssels als nationale Währung hochhält. Dass sich Orbán dazu entschieden hat, für den Schutz traditioneller Werte der Ungarn zu kämpfen, imponiert seinem polnischen Biographen, während es Link(sliberal)en in Europa und den USA gegen den Strich geht.
Der Autor stellt uns den ungarischen Ministerpräsidenten als jemanden vor, der auf dem politischen Parkett Europas und darüber hinaus fundamentale Denkanstöße liefert. Davon könnten sich seiner politischen „Mitspieler“ ein Stück abschneiden (der fußballbegeisterte Orbán vergleicht nicht selten Konstellationen mit dem Geschehen auf einem Spielfeld). Besonders dann, wenn es um Vereinheitlichung und Regelungsdichte in der EU geht, um zentralistisches Gebaren und Subsidiarität, kurzum um Sinn und Unsinn der EU und der Nationalstaaten.
Gleichwohl spricht Janke seinem Porträtierten Qualitäten ab, die ihn im EUropäischen Konzert zur Führungsfigur avancieren ließen: Orbán sei – eine seiner Schattenseiten – von Sozialisation und Charakter her dazu nicht in der Lage, denn er könne nicht, wie Angela Merkel oder der polnische Premier Donald Tusk, mit allen reden, mit allen anderen auskommen.
Einen zentralen Abschnitt des Buches beanspruchen die Motive des Handelns Orbáns und seiner Religiosität. So bestimmt Janke die antikommunistische Prägung des vom ursprünglich „Liberalen“ zum Konservativen Gewandelten in erfahrungsgesättigten Zäsuren: Zum einen während seiner Zeit als Wehrpflichtiger, zum andern durch seine Zugehörigkeit zu dem nach einem bedeutenden Gelehrten und Politiker benannten „Biró-Kolleg“ an der Juristischen Fakultät der Budapester Eötvös-Loránd-Universität (ELTE), der bedeutendsten Hochschule Ungarns, an der Orbán studierte.
Zugang zum Glauben fand der in religiös indifferentem, politisch angepasstem Elternhaus Aufgewachsene (der Vater war Agraringenieur und Parteimitglied, die Mutter Behinderten-Pädagogin) in seiner calvinistischem Ehefrau Anikó. Sie ist Juristin wie er. Er heiratete sie 1986 und hat mit ihr fünf Kinder. Ebenso wichtig war der reformierte Geistliche Zoltán Balog, einer seiner frühen Weggefährten. Orbáns Religiosität sei echt, schreibt der Autor, sein Glaube gebe ihm Kraft, gefestigt durch Krisen zu gehen. Besonders lesenswert ist in diesem Zusammenhang der Abschnitt über Orbáns Wahlniederlage 2002 und wie er sie überwand.
Für Janke sind Nation und Freiheit die beiden zentralen Werte, die Orbáns politisches Handeln leiten. Es gehe ihm um die nationale Souveränität des ungarischen Volkes und die wirtschaftliche Souveränität des Landes. Letzteres bedeute indes nicht – und entgegen allem, was ihm Kritiker in Ungarn und außerhalb wirtschaftspolitisch unterstellen – dass er auf eine mehr oder minder gelenkte Staatswirtschaft zusteuere. Vielmehr wolle Orbán für ein gefestigtes Bürgertum sorgen, es solle im Lande „mehr ungarische Eigentümer“ geben. Dazu sei es nötig, die Rolle ausländischer Unternehmen dort einzuschränken, wo sie keine produktive Funktion erfüllten, sondern nur Kaufkraft abschöpften und – anstatt sie in Ungarn zu reinvestieren – Gewinne ins Ausland transferierten.
Jankes Biographie ist hervorragend recherchiert. Viele Gespräche hat er mit Orbán geführt, ebenso mit zahlreichen einstigen und derzeitigen Weggefährten und Gegnern. Zwar durchzieht des Biographen Sympathie für Orbán das 340-Seiten-Buch. Doch er verschweigt keineswegs die Schattenseiten des Porträtierten. Von Anfang an wird dem Leser klar, dass Janke subjektiv-anerkennend schreibt. Nirgendwo versucht er zu belehren oder gar zu indoktrinieren. Stets ist offenkundig, dass da jemand urteilt, der große Stücke auf Orbán hält, den er der Leserschaft als außergewöhnlichen, prinzipienfesten, jedem Konformismus abholden und zukunftsweisenden Politiker nahe zu bringen versucht.
Jankes flüssig geschriebene Biographie ist uneingeschränkt zu empfehlen, insbesondere jenen Zeitgenossen aus Politik und Publizistik, denen es um ihrer Glaubwürdigkeit willen gut anstünde, ihre (Vor-)Urteile ihm und den Hunderttausenden Ungarn gegenüber zu revidieren, die seine Anhänger, Sympathisanten und Wähler sind.
Der Verfasser ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist
Igor Janke: Viktor Orbán. Ein Stürmer in der Politik,
Passau (Schenk Verlag GmbH) 2014, 343 Seiten,
ISBN 978-3-944850-14-6; geb., € 20,50