Tektonische Verwerfungen im Finanzsektor

„Wenn alle Experten einig sind, ist Vorsicht geboten“ stellte der britische Philosoph Bertrand Russel einst nüchtern fest. Gegenwärtig scheinen alle Experten einig zu sein, dass die Gefahr einer Deflation droht. Die Zeitungen sind voll mit einschlägigen Kommentaren der üblichen Verdächtigen – allen voran IWF-Chefin Christine Lagarde und EZB-Kapo Mario Draghi (vormals Vizepräsident von Goldman Sachs).

Doch einige selbstständig denkende, nicht als Handlanger der politischen Eliten und Zentralbanken fungierende Fachleute sind da nicht ganz so sicher: Ronald Stoeferle (der vormalige Gold- und Ölanalyst der Erste Bank) und Mark Valek von der Liechtensteinischen Investmentgesellschaft Incrementum haben soeben eine umfangreiche Studie präsentiert, in der die Herausforderungen für das Weltfinanzsystem nicht ganz so einseitig dargestellt werden. Sie verwenden zur Erklärung der laufenden Entwicklungen die Metapher von aufeinander prallenden „tektonischen Platten“.

Eine dieser beiden „Platten“ wird von den Notenbanken gebildet, die mit ihrer expansiven Geldpolitik den Markt mit Liquidität fluten, um die gesamte Geldmenge (das Geldmengenaggrat M3) zu erhöhen. Das ist aus Sicht der Notenbanker deshalb erforderlich, weil sie die Gefahr einer Deflation dräuen sehen (dieser Begriff stand ursprünglich für Geldmengenreduktion – das war einst die Voraussetzung für die heutige Situation, dass die Marktpreise auf breiter Front sinken). Eine Deflation verfügt ihrer Meinung nach über die inhärente Tendenz zur Selbstverstärkung und zur Ausbildung einer Depression und wird daher als weit gefährlicher eingestuft als eine Inflation (Geldmengenausweitung).

Das widerspricht klar der historischen Evidenz. Durch Inflation bedingte Katastrophen sind Legion, von verheerenden Deflationsdebakeln ist dagegen bislang nichts bekannt…

Die Geschäftsbanken bilden – zusammen mit den Unternehmen der Realwirtschaft – die zweite dieser „Platten“. Diese ist gegenwärtig von einer Kredit- und damit Geldmengenkontraktion gekennzeichnet. Die Betriebe nehmen – mangels Erfolg versprechender Investitionsaussichten – keine neuen Kredite auf, sondern zahlen vielmehr bestehende Verbindlichkeiten zurück. In einem Schuldgeldsystem, in dem die Schulden der Debitoren zugleich die Guthaben der Kreditoren sind, bedeutet das einen Geldmengenrückgang – Deflation.

Was – neben Not leidenden Verbindlichkeiten insolventer Debitoren – bleibt, sind Konsumkredite und Schulden, die für spekulative Zwecke aufgenommen wurden. Für die Erhaltung und den Ausbau des Kapitalstocks im produktiven Sektor, der für die künftige Höhe des kollektiven Wohlstands von entscheidender Bedeutung ist, bleibt also wenig übrig. Das alles verspricht alles andere als rosige Aussichten und lässt keine ungetrübte Freude über die laufenden Kursfeuerwerke an den Börsen aufkommen.

In den Nachrichten wird ständig der Eindruck vermittelt, die Zentralbanken verfügten über die volle Kontrolle über die Geldmenge. Das stimmt nicht. Der größte Teil der Geldmenge wird nämlich nicht von ihnen, sondern von den Geschäftsbanken im Wege der Kreditvergabe geschöpft. Sinkt die Nachfrage nach neuen Krediten, verpufft die Politik des von den Notenbanken betriebenen „quantitative easing“ zu großen Teilen. Exakt darin besteht die beschriebene „Tektonik“, also das Problem, vor dem die nicht nach wirtschaftlichen, sondern nach politischen Kriterien handelnden Planwirtschafter unserer Tage stehen. Sie haben ihr Pulver bereits großteils verschossen. Billiger als zum Nulltarif können sie dem Markt ihr Geld schwerlich andienen.

Weniger Kredite für die Unternehmen bedeuten aber geringere Investitionen, stagnierende Produktion, sinkende Nachfrage nach Arbeitskräften und damit fallende Lohnsummen. Die wiederum führen, da am Ende auch noch der Konsum einzubrechen droht, zu sinkenden Staatseinnahmen und zugleich zu steigenden Ausgaben für Lohnersatzzahlungen.

Gegenwärtig deutet sich tatsächlich eine „disinflationäre“ Phase an, wiewohl die Haushalte unter einem überproportionalen Auftrieb der Preise für Nahrung, Wohnen und Mobilität zu leiden haben. Die weltweite, zu einem guten Teil durch die katastrophale Staatsüberschuldung bedingte, Instabilität des Weltfinanzsystems macht es außerordentlich schwierig, die künftige Entwicklung einzuschätzen. Ob derzeit also eher die Gefahr einer deflationären Abwärtsspirale oder die einer galoppierenden Inflation überwiegt, ist auch mit der besten Kristallkugel kaum zu prognostizieren. Wir werden wohl noch einige Zeit mit gespannten Erwartungen zu leben haben…

Da sich das Zinsniveau, wie bereits angemerkt, schon jetzt auf historischem Tiefstand befindet, die Betriebe aber (falls sie überhaupt über die notwendige Bonität verfügen, um Kredite nachzufragen) selbst „geschenktes Geld“ nicht haben wollen, ist guter Rat teuer. Dies deshalb, weil die hohe Politik für sich die Verantwortung und Fähigkeit reklamiert, die gesamte Wirtschaft zu lenken – was ihre Möglichkeiten bei weitem übersteigt. Klar ist jedenfalls, dass der Kauf von Wählerstimmen durch die Beschaffung von Brot und Spielen ohne eine hemmungslose Kredit- und Geldproduktion sehr viel schwieriger würde. Dass Regierungen und Banken – anders als Sparer, Investoren und Privathaushalte – jedes Interesse an einer höheren Inflationsrate haben, liegt auf der Hand.

Nach der von den Regierenden aus nahe liegenden Gründen ignorierten Analyse der „Österreichischen Schule“ befinden sich große Teile der Weltwirtschaft gegenwärtig in einer Korrekturphase, die auf den inflationär angeschobenen Boom der zurückliegenden Jahre logisch folgen musste. Wir sind längst am Ende des künstlich geschaffenen Konjunkturzyklus angelangt.

In dieser Lage wird nun versucht, die notwendige Aufdeckung der herrschenden Konjunkturillusion (Rezession) mittels neuerlicher Interventionen hinauszuzögern. Man darf gespannt sein, ob schon demnächst die berüchtigten Helikopter Ben Bernankes aufsteigen werden, um frisches Geld auf direktem Wege an den Mann zu bringen. Das alles entspricht der Beschleunigung jenes Pyramidenspiels, das niemals hätte gestartet werden dürfen. Wie frivole „Spiele“ dieser Art zu enden pflegen, ist hinlänglich bekannt: Siehe hier.

Die oben zitierte Studie von Stoeferle/Valek ist unter folgender Adresse zu finden:

http://www.incrementum.li/wp-content/uploads/2014/01/Monetary_Tectonics_Inflation_vs_Deflation_Incrementum_Liechtenstein_Chartbook.pdf

Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.

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