Die ÖBB sind, wie Reisende wissen, stets für Überraschungen gut. So auch jetzt zu Beginn des Reisejahrs 2014. Die neueste Überraschung des Staatsunternehmens zielt auf Familien mit Kindern. Veranschaulichen wir uns das so:
Die Lebensabschnittspartner Claudine und Alex (sie Börsenfrau, er Chefarzt), außerdem Claudines Tochter Nora sowie Alex Neffe Sven, fahren per Railjet erster Klasse von Wien nach Innsbruck. Die Kinder sollen die neuen Hightech-Ski testen, die neben so manchem andern, was glitzert, unter dem Christbaum lagen. Nora und Sven haben zwei Schulkollegen, Mirjam und Nico, mit ihren neuen Snowboards und Handys dabei.
Gleichzeitig fährt die Kassierin Resi, deren Mann jüngst bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam, mit ihren Kindern Franz, Michi und Max für ein paar Tage ins Waldviertel zur Oma. Resi reist zweiter Klasse im Regionalzug, die Reise ist das Weihnachtsgeschenk, das sie sich und den Kindern leisten kann.
Nun der ÖBB-Knaller zum Neuen Jahr: Beide Reisegruppen haben die neue ÖBB-Vorteilscard-„Family“ gekauft. Preisfrage: Wer zahlt jetzt, ab 2014, für mitreisende Kinder? Richtig: die Resi. Sonst niemand. Wir danken für Ihr Verständnis.
Es gibt Leute, die das für einen verfrühten oder vielmehr (da wir von der Bahn reden) verspäteten Aprilscherz halten. Es gibt andere, die sich einigermaßen aufregen. Aufregen nützt aber nichts, denn die ÖBB sitzen nach eigener Auskunft ganz unaufgeregt im Zug der Zeit. Man habe sich „an die Lebensrealität vieler Familien angepasst“, lässt die Presseabteilung wissen und verwendet dabei eine Floskel, die die inzwischen wohl meistgebrauchte bei der Kaschierung familienfeindlicher Maßnahmen ist. Vor allem aber lenkt man so von der unschönen Tatsache ab, dass man selbst soeben „die Lebensrealität vieler Familien“ verändert, insbesondere die der mehr als 170.000 Familien in Österreich, die, wie die Resi, drei oder mehr eigene Kinder haben und damit über dem Kinderlimit der Spießer von heute liegen, das heißt keine Lobby haben.
Diese Familien, deren Lebensrealität man gerade ändert, werden dann auch das jüngste Orakel von Verkehrsministerin Doris Bures (SPÖ) nicht gleich verstehen. Die eher gesprächige als reflektierte Dame meint, mit der neuen Vorteilscard würden „noch mehr Familien die umweltfreundliche Bahn nutzen“.
Na klar, Chefarzt Alex hätte auch den Privatjet nach Innsbruck nehmen können, aber geht damit die Rechnung wirklich schon auf? So ganz einfach nicht. Die Statistik Austria unterrichtet uns eben nicht nur über insgesamt 170.000 österreichische Familien mit drei oder mehr Kindern, was den ÖBB offenbar grundsätzlich gleichgültig ist. Wir danken für Ihr Verständnis.
Die Statistik Austria meldet auch, dass es in Österreich jedenfalls deutlich weniger unverheiratete Paare gibt, die überhaupt Kinder haben (nämlich knapp 148.000), als Ehepaare mit mehr als drei Kindern (über 158.000). Aber selbst, wenn man das beiseite lässt (wir danken für Ihr Verständnis) und nur die Anzahl der Kinder unter 15 Jahren nimmt, stehen immer noch 529.000 Kinder verheirateter Paare 121.600 Kindern gegenüber, die bei unverheirateten Eltern leben. Das nur als Hinweis, wie schleierhaft es ist, wer hier auf wessen Kosten durch die ÖBB umworben wird. Schleierhaft ist dies freilich umso mehr, als diese Zahlen das eigentliche Problem noch gar nicht beleuchten. Das Problem liegt hier: Bisher konnte jeder, der Anspruch auf Familienbeihilfe hatte, zum Beispiel auch die Alleinerziehenden, bei denen in Österreich inzwischen etwa ein Fünftel der Kinder aufwachsen, mit gutem Grund die Vorteilscard „Familie“ lösen – unsere Resi auch, und zwar ohne sich für das dritte Kind entschuldigen zu müssen.
Genau diese soziale Rückkoppelung aber fällt – das ist des Pudels Kern – ohne erkennbaren Grund jetzt weg und wird allenfalls durch die Kinderobergrenze (zwei Stück pro zahlendem Single) kompensiert. Im Klartext: Der Steuerzahler, ohne welchen bekanntlich bei der ÖBB die Räder auch der Railjets nicht rollen, finanziert jetzt schlicht und einfach Halbpreistickets für jeden, der in den Bahnhof spaziert, sich zur Familie erklärt und irgendein Kind zur Mitfahrt findet, auch wenn ihn mit dessen Ernährung und Erziehung keinerlei „Lebensrealität“ verbindet.
In Holland hat vor zehn Jahren ein verwirrtes Wesen namens Jennifer Hoes sich selbst geheiratet. Was man schon damals als Symbol für die totale Atomisierung (um nicht zu sagen: Idiotisierung) der modernen Gesellschaft ansehen musste, zeigt heute um so mehr auf einen ideologischen Subtext, auf dessen Basis sich offenbar auch die ÖBB anschicken, „die Lebensrealität vieler Familien“ mutwillig zu verändern. Wir ahnen, dass Eisenbahnen einen solchen Auftrag eigentlich nicht haben, danken aber für Ihr Verständnis.
Nachtrag: Und die Resi? Nun ja, die zahlt halt. Das haben die schwächsten Glieder schon immer getan. Wir wünschen allen Familien, besonders den Singles, weiterhin gute Fahrt.
Prof. Dr. Thomas S. Hoffmann lebt in Wien, lehrt Praktische Philosophie an der Fernuniversität in Hagen, war viele Jahre freier Mitarbeiter beim Feuilleton der FAZ und ist an sich überzeugter Bahnfahrer.