Sind PISA und andere OECD-Studien das Papier wert, auf dem sie stehen?

Dieser Vergleich von Ergebnissen wird OECD-Gläubige erschüttern. Die OECD hat im Frühjahr 2006 junge Menschen des Geburtsjahrgangs 1990 im Rahmen der PISA-Studie getestet. Die jüngste bei der OECD-Studie PIAAC (PIAAC ist das Akronym für „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“ ausgewiesene Altersklasse war bei der Testung 16- bis 24-jährig, setzte sich also aus jungen Menschen zusammen, die zwischen 1987 und 1995 geboren sind.

Ein Vergleich der PISA- und der PIAAC-Leistungen betreffs Lesekompetenz und mathematischer Kompetenz bietet sich trotz aller Unterschiedlichkeit in den konkreten Aufgabenstellungen an. Dieser Vergleich der beiden OECD-Studien muss alle, die PISA-Ergebnisse bisher auf die Goldwaage gelegt haben, erschüttern.

Es zeigen sich einige extreme Widersprüchlichkeiten bei der Lesekompetenz. Aus den Ergebnissen von PISA 2006 glaubte man zu wissen, dass

  1. … die Südkoreaner über die mit Abstand größte Lesekompetenz verfügen. Unter allen 56 PISA 2006-Teilnehmerländern hatte Südkorea nämlich mit großem Vorsprung auf den Zweitplatzierten den ersten Platz belegt. Doch sechs Jahre später erreichten die Südkoreaner dieser Altersgruppe nur mehr den fünften Platz von 24 PIAAC-Teilnehmerländern.
    Was ließ die jungen Menschen Südkoreas nach der PISA-Testung derart zurückfallen?
  2. … die jungen Menschen Irlands besonders kompetente Leser sind. Sie erzielten bei PISA 2006 acht Monate Leistungsvorsprung auf den OECD-Mittelwert. (Die beiden OECD-Studien verwenden eine unterschiedliche Maßeinheit. Laut OECD entsprechen etwa 40 PISA-Punkte dem Lernfortschritt eines Jahres, während es bei PIAAC laut OECD 7 Punkte sind, die dem Kompetenzzuwachs eines zusätzlichen Jahres im Bildungswesen entsprechen.)
    Doch sechs Jahre später verzeichnen die Iren dieser Altersgruppe fünfzehn Monate Rückstand auf den Mittelwert der PIAAC-Teilnehmerländer.
    Was ist den Iren in diesen sechs Jahren widerfahren?
  3. … auch Polens junge Menschen zu den besonders erfolgreichen Lesern gehören: Fünf Monate Vorsprung auf den OECD-Mittelwert haben auch den Bildungssprecher der Grünen wiederholt auf Polen als Gesamtschulwunderland hinweisen lassen.
    Und jetzt hat Polen bei PIAAC 14 Monate Rückstand!
    Das Kompetenzniveau der Jugend Polens erlitt also innerhalb von nur sechs Jahren 19 Monate Einbuße?

Einige weitere Kuriositäten rund um die Lesekompetenz:

  • Italiens Schulsystem, die Vision des Tiroler Landeshauptmanns Platter, erzielt zwar konstant schlechte Ergebnisse. Der Rückstand von Italiens Jugend auf den internationalen Mittelwert hat sich aber zwischen PISA 2006 und PIAAC von sieben Monaten auf fast eineinhalb Jahre vergrößert.
  • Junge Menschen der Niederlande, hinsichtlich ihrer Lesekompetenz bei PIAAC die Nummer eins, konnten ihren Vorsprung auf den Mittelwert innerhalb dieser sechs Jahre von viereinhalb Monaten auf fast drei Jahre vervielfachen.

Änderungen bei der mathematischen Kompetenz im Vergleich zum OECD-Mittelwert:

 

PISA 2006

PIAAC

Österreich:

2 Monate Vorsprung

14 Monate Vorsprung

Kanada:

9 Monate Vorsprung

5 Monate Rückstand

Vereinigtes Königreich *

1 Monat Rückstand

2 Jahre Rückstand

Spanien:

5 Monate Rückstand

über 2 Jahre Rückstand

Irland:

1 Monat Vorsprung

fast 2 Jahre Rückstand

USA:

7 Monate Rückstand

über 3 Jahre Rückstand

Italien:

1 Jahr Rückstand

fast 3 Jahre Rückstand

* An PIAAC haben vom Vereinigten Königreich nur England und Nordirland teilgenommen.

Was soll man sich z. B. dabei denken, wenn

  1. … Kanadas 15-Jährige bei PISA mit einem Vorsprung von etwa einem Dreivierteljahr auf den internationalen Mittelwert immer wieder zu den besten zählen, „dieselben“ jungen Menschen aber bei PIAAC den internationalen Mittelwert um fast ein halbes Jahr verfehlen? (Besonders krass ist dabei der Vergleich zwischen PISA 2009 und PIAAC, wo „dieselben“ jungen Kanadier innerhalb von drei Jahren aus einem Vorsprung von acht Monaten einen Rückstand von acht Monaten werden ließen.)
    Versagt Kanadas Sekundarstufe II dermaßen?
  2. … Japans 15-Jährige bei PISA nur einen Monat über dem internationalen Mittelwert landeten, „dieselben“ jungen Menschen aber sechs Jahre später als 21-Jährige zweieinhalb Jahre Vorsprung auf den internationalen Mittelwert haben?
    Leistet Japans Sekundarstufe II wirklich dermaßen Phänomenales?

Es stellt sich die Frage, wie Leistungsverschiebungen von bis zu zweieinhalb Bildungsjahren innerhalb von nur sechs Jahren zu erklären sind. Mir ist darauf keine Antwort der OECD-Bildungsabteilung bekannt.

Ich möchte die im Titel gestellte Frage in gründlicher Kenntnis dieser Studien mit einer Feststellung und einem Appell beantworten:

  • Die aufgezeigten Widersprüchlichkeiten sind ein weiteres Indiz, wie vorsichtig man bei der Interpretation von PISA & Co sein muss.
  • Politisch Verantwortliche sollten sich nicht durch medialen Druck und Trommelwirbel von „Experten“ auf PISA-Irrwege locken lassen!

Mag. Gerhard Riegler ist Vorsitzender der Österreichischen Professorenunion.

Der ursprünglich gegenderte Text ist in Hinblick auf die bessere Lesbarkeit (und die Ermöglichung Sinn erfassenden Lesens) eingedeutscht worden.

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