Das kürzlich herausgegebene Apostolische Schreiben ist nicht das erste Papier, mit dem der Heilige Stuhl zu Wirtschaftsfragen Stellung bezieht. Das war schon in mehren „Sozialenzykliken“, wie Rerum Novarum (1891), Quadragesimo anno (1931) oder Populorum progressio (1967) der Fall. Keiner seiner Vorgänger allerdings hat das System der freien Marktwirtschaft in derart expliziter Weise attackiert, wie das der amtierende Papst Franziskus eben getan hat.
Einige Passagen seines Papiers erinnern an Pamphlete aus der Feder von Jean Ziegler oder Sahra Wagenknecht. Der in Brasilien wirkende Bischof Erwin Kräutler nannte das Schreiben in einem Radiointerview – nicht ohne Grund – ein „Dokument der Befreiungstheologie“, das, wie er anmerkt, allerdings nur aus lateinamerikanischer Sicht zu verstehen sei.
Fragen von Mission und Neuausrichtung des Papsttums bleiben an dieser Stelle unberücksichtigt. Hier wird nur auf die wirtschaftsrelevanten Teile des Textes Bezug genommen.
Die sich durch das gesamte Schreiben ziehende Beschwörung, ja Verherrlichung der Armut fällt als erstes ins Auge. Die Kritik an einer angeblich zunehmenden „sozialen Ungleichheit“ als nächstes. Gerechtigkeit manifestiert sich für den Bischof von Rom in materieller Gleichheit. Folgerichtig kommt er zu dem Urteil: „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“. Und um jedem Missverständnis vorzubeugen: „Diese Wirtschaft tötet.“ Das sitzt. Die Sozialisten in allen Parteien haben hiermit einen neuen Verbündeten.
Dass es genau das kritisierte System des freien Marktes war und ist, das in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten hunderte Millionen Menschen aus bitterster Armut zu bescheidenem Wohlstand geführt hat, wie das beispielsweise in vielen Ländern im Osten Asiens der Fall war, will der Papst nicht zur Kenntnis nehmen. Und dass viele Menschen nach wie vor ausgerechnet in jenen Teilen der Welt hungern und unter den furchtbarsten Bedingungen vegetieren, wo keine Rechtssicherheit herrscht, wo weder gesichertes Privateigentum noch freie Märkte existieren, lässt er unberücksichtigt.
Franziskus’ Verständnis von der Funktionsweise einer Marktwirtschaft liest sich so: „Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht.“ Was er hier beschreibt, ist primitives Faustrecht, das in jenen finsteren Winkeln der Welt herrscht, die in den Berichten über Hunger und Elend am häufigsten genannt werden. Dort hat tatsächlich immer derjenige Recht, dem der dickste Prügel gehört, oder der über den Ausnahmezustand gebietet.
Marktwirtschaft hat indes mit Faustrecht gar nichts gemein. Die Marktgesellschaft zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie gewalttätige, mit Mord und Totschlag verbundene Konflikte durch friedliche Arbeitsteilung, Kooperation und Freihandel überwindet und in Vorteile für alle daran Beteiligten verwandelt.
Pure Blindheit für das Offensichtliche tritt zutage, wenn der Papst meint, es sei eine „…Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde…“, dass freie Märkte zur Verbesserung der Lebensumstände der Menschen führen. Er sollte seinen Blick zum Beispiel auf China richten – ein Land, in dem unter planwirtschaftlichen Konditionen Dutzende Millionen Menschen verhungerten. Dort haben heute nicht nur einige wenige von der wirtschaftlichen Liberalisierung profitiert, sondern es ist auch eine breite, stetig wachsende Mittelschicht entstanden, die in materiellem Wohlstand lebt.
Dass die „Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel“ ausgerechnet von einem Mann gegeißelt wird, der selbst erlebt hat, wie rechte und linke Diktaturen ein einstmals blühendes Land ruinierten, entbehrt nicht der Ironie. In einem freien Markt kann – anders als in einer planwirtschaftlichen Diktatur – kein Produzent dem Publikum seine Waren oder Dienstleistungen aufzwingen. Um also zu verstehen, wie etwa die Vorstände von Daimler-Benz oder Novartis eine „Diktatur“ errichten können sollten, muss man schon über eine munter blühende Phantasie verfügen.
Danach greift der Heilige Vater einen weiteren Irrtum notorischer Antikapitalisten auf, wenn er meint: „Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit.“ Unsinn wird – siehe das Beispiel Chinas – durch beharrliche Wiederholungen nicht wahrer. Aber selbst wenn die Reichen tatsächlich rascher an Einkommen gewinnen sollten als die weniger Reichen, wäre das völlig belanglos, so lange sich die Lage der Armen absolut verbessert – was in den „kapitalistischen“ Schwellenländern der Fall ist. Zweifellos ist ein Wirtschaftssystem, von dem einige wenige stärker profitieren mögen als andere, in dem sich immerhin aber auch die Lebensumstände der Unterprivilegierten verbessern, einem solchen vorzuziehen, das kollektive Gleichheit in Mangel, Armut und Elend garantiert.
Phrasen wie von der Gewerkschaftsjugend
Franziskus ist mit seinem antikapitalistischen Latein aber noch lange nicht am Ende, denn er setzt fort: „Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen.“ Dieser Satz könnte einer Aussendung der Gewerkschaftsjugend aus dem tiefroten Simmering entstammen und ist völlig abwegig. Freiheit folgt keiner Ideologie, sondern ist ein unter Abwesenheit willkürlichen Zwanges herrschender Normalzustand.
Wenn freie Menschen aus freien Stücken und nach ihrem Gutdünken Güter und Dienstleistungen kaufen und verkaufen, so folgen sie damit keinem Dogma, sondern schlicht und ergreifend ihren Präferenzen. In Wahrheit ist also vielmehr derjenige, der die hart attackierte „Autonomie der Märkte“ beenden möchte, ein totalitärer Träumer, der die Menschen unter das Joch seiner (linken) Ideologie zwingen will.
Finanzspekulationen möchte der Papst origineller Weise durch das segensreiche Wirken des Staates unterbunden sehen – ausgerechnet jenes Staates, der dank seines Geldmonopols und seiner eigentumsfeindlichen Zinspolitik an der Wiege jeder Finanzspekulation steht. Die Vorstellung von einem die Spekulation unterbindenden Staat ist wohl seiner absoluten Ahnungslosigkeit hinsichtlich Funktionsweise und Wirkung jedes Fiat-Money-Systems geschuldet.
Dass Papst Franziskus – wie jeder Befürworter der „sozialen Umverteilung“ – „eine egoistische Steuerhinterziehung“ scharf kritisiert, passt ins Bild. Nicht des Staates „Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen“, indem dieser die Menschen um immer größere Anteile ihres sauer erarbeiteten Geldes bringt. Kritisiert wird vielmehr derjenige, der einer willkürlichen Enteignung zu entgehen versucht!
Dass der ständig wachsende und Macht akkumulierende Staat, selbst dann, wenn er den Werktätigen ohnehin bereits den Löwenanteil ihrer Einkommen abpresst, immer noch nicht ohne Schulden zu machen durchkommt, findet der Papst dagegen keiner Erwähnung wert. Wo sind die Zeiten, als eine starke, selbstbewusste Kirche sich als weit und breit einzige Opposition zum allmächtigen Staat begriffen hat?!
Mit einem Zitat Johannes Chrysostomus’ wird entschlossen die Axt an die Wurzeln unseres westlichen Rechtssystems gelegt: „Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen.“ Der französische Anarchist Proudhon hatte demnach also doch recht: Eigentum ist Diebstahl. Neu ist allerdings, dass ein Papst diese Meinung teilt! Wie – ohne gesichertes Privateigentum – ein zivilisiertes, vor allem aber gewaltfreies Zusammenleben möglich sein sollte, bleibt vorerst ein gut gehütetes vatikanisches Geheimnis.
Selbst vor der abgeschmackten Phrase „Das Geld muss dienen und nicht regieren!“ schreckt Franziskus nicht zurück. Überflüssig, diese peinliche Banalität zu kommentieren. Er findet „…das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht…“ Natürlich! Gerechtigkeit ist eben nun einmal eine Kategorie des Himmels, nicht aber des irdischen Jammertals. Wer sollte das besser wissen als ein Mann Gottes?
Viel gerechter wäre es nach seiner Meinung vermutlich aber dennoch, ein System in der Art von „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ zu etablieren! Das war ja schon einmal da. Und es hätte im Grunde auch wirklich großartig funktioniert, wenn es nicht unglücklicherweise an der Realität gescheitert wäre…
Was der Heilige Vater uns mit dem kryptischen Satz „…erzeugt die soziale Ungleichheit früher oder später eine Gewalt, die der Rüstungswettlauf nicht löst…“ mitteilen will, ist ein wenig rätselhaft. Was hat die soziale Ungleichheit mit einem Rüstungswettlauf zu tun? Und welcher ist gemeint? Der zwischen der untergegangenen Sowjetunion und den USA (den das liberale Gesellschaftsmodell für sich entscheiden konnte) oder der heraufziehende zwischen den USA und China?
Wie dem auch sei: Papst Franziskus ist es ernst mit seinem Engagement für die Mühseligen und Beladenen dieser Welt. Im Kampf gegen die Armut sieht er eine der Hauptaufgaben der Katholischen Kirche. Dagegen gibt es nichts einzuwenden! Allerdings sucht man in der Heiligen Schrift vergeblich nach einem Aufruf zum (wirtschafts-)politischen Aktionismus. Jesus betont nicht ohne Grund: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18/36).
Weshalb der Nachfolger Christi also meint, seinem edlen Zweck ausgerechnet mit einem Schulterschluss mit den Sozialisten dienen zu können, bleibt unbegreiflich. Die Armut zu besiegen, indem man gegen den wirkungsvollsten Wohlstandsgenerator kämpft, den die Menschheit bisher jemals zur Verfügung hatte, nämlich die (ohnehin nirgendwo mehr wirklich) freie Marktwirtschaft, kann niemals gelingen!
Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.