Die jüngste Polemik um den Südtiroler Freiheitskampf offenbart, wie die SVP Geschichtsklitterung instrumentalisiert. In Südtirol lenkt der mediale Blick auf Wohl oder Wehe des kurz vor seinem Abgang von einem Herzinfarkt physisch niedergestreckten Landeshauptmanns Luis Durnwalder vorübergehend von politischen Auseinandersetzungen ab, die um Vergangenheit und Zukunft des nach dem Ersten Weltkrieg von Italien annektierten ehedem österreichischen Landesteils entbrannt sind. Wie heftig darob die Meinungen aufeinanderprallen, zeigt sich an der Polemik rund um die alljährlich stattfindende Sepp-Kerschbaumer-Gedenkfeier.
Diese war in St.Pauls angesetzt, einer Fraktion der der Hauptstadt Bozen benachbarten Überetscher Gemeinde Eppan. Kerschbaumer war der charismatische Gründer und Leiter des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS). Diese Vereinigung, der Tiroler aus beiden Landesteilen, aber auch andere Österreicher angehörten, widersetzte sich – vornehmlich mittels Anschlägen auf italienische Einrichtungen – seit Mitte der 1950er Jahre der auch vom demokratischen Italien nach Ende des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger bruchlos fortgesetzten Politik der Italianita zwischen Brenner und Salurner Klause.
Italien betrieb diese Politik trotz des 1946 in Paris zwischen dem damaligen österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide DeGasperi geschlossenen Vertrags. Diesem zufolge sollte den Südtirolern die Wahrung ihrer sprachlich-kulturellen Identität im Rahmen einer Selbstverwaltung (über ein 1948 installiertes Autonomie-Statut) gewährleistet sein. Weil der trickreiche DeGasperi die beiden benachbarten Provinzen Bozen-Südtirol und Trient mittels dieses Statuts zur Autonomen Region Trentino-AltoAdige zusammenfügte, waren Deutschsüdtiroler und Ladiner durch die erdrückende Mehrheit der ethnischen Italiener automatisch majorisiert.
Als SVP-Obmann Silvius Magnago am 17. November 1957 auf der Großkundgebung von Schloss Sigmundskron zum „Los von Trient“ aufrief, war Kerschbaumer dabei. Er verteilte Flugblätter, auf denen er das Verlangen nach einem freien Südtirol wie folgt begründete: „Deutsch wollen wir bleiben und keine Sklaven eines Volkes werden, welches durch Verrat und Betrug unser Land kampflos besetzt hat und seit 40 Jahren ein Ausbeutungs- und Kolonisationssystem betreibt, welches schlimmer ist als die einstigen Kolonialmethoden in Zentralafrika." Kerschbaumer hatte stets nur Anschläge auf Einrichtungen wie Volkswohnbauten – errichtet zur Unterbringung von nach Südtirol umgesiedelten Süditalienern – oder Masten von Hochspannungsleitungen befürwortet.
Er wurde nach der „Feuernacht“ – vom 11. auf den 12. Juni wurden 37 Hochspannungsmasten gesprengt (19 im Raum Bozen), woraufhin die Südtirol-Frage schlagartig ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt ward – zusammen mit 150 weiteren BAS-Leuten verhaftet und in der Haft gefoltert. Die schweren Misshandlungen an ihm und seinen Mitgefangenen, von denen Anton Gostner und Franz Höfler starben, trugen zur weiteren Eskalation bei. An den Folgen der Misshandlungen verstarb auch Kerschbaumer am 7. Dezember 1964. Er wurde in St. Pauls bestattet; dem Trauerzug folgten mehr als 15.000 Menschen.
Erst nach zähen Verhandlungen ist es 1972 zum Zweiten Autonomiestatut gekommen, seitdem hat sich die Lage erheblich befriedet. Den Südtirolern geht es heute zweifellos besser als den meisten der mehr als hundert nationalen und/oder ethnischen Minderheiten Europas, die in fremdnationaler Umgebung leben (müssen). Die Geschichte des Landes ist daher – begünstigt vom Wohlstand – weithin aus dem Bewusstsein seiner Bewohner geschwunden. Oder durch Historiker-Interpretation in ein bestimmtes, meist politisch-korrektes Bild gekleidet worden, welches zudem von der seit 1948 dominanten Mehrheitspartei SVP für mehr oder weniger sakrosankt erklärt wird.
Ob die Attentate mehr geschadet oder genutzt haben, war lange umstritten. Autonomie-„Vater“ Silvius Magnago würdigte jene, die durch Sprengstoffanschläge drei Jahrzehnte zuvor auf die Lage der Südtiroler aufmerksam machten: Sie hätten damit einen Beitrag geleistet auf dem steinigen Weg zur Autonomie. Seine Partei rückt heute mehr und mehr davon ab und macht sich in einer Art verordneter Geschichtspolitik nur allzu gerne die Thesen des Innsbrucker Zeithistorikers Rolf Steininger zueigen.
Demnach hätten nicht die Aktivitäten der Freiheitskämpfer Rom zum Nachgeben veranlasst und hätten die Entwicklungsprozesse hin zur Autonomie nur deshalb einen positiven Fortgang genommen, weil es „keine realistische Alternative gegeben“ habe; die Neunzehnerkommission, welche Autonomie-Paket und Operationskalender erarbeitete, sei daher „nicht wegen, sondern trotz der Feuernacht von 1961" zustande gekommen. Die Attentate hätten daher vor allem der italienischen Seite genutzt, da sie die Selbstbestimmung – das eigentliche Ziel des BAS und aller Freiheitskämpfer, die nach dessen Eliminierung weitere Anschläge verübten – diskreditierten. Steininger und die maßgeblichen SVP-Politiker erklären daher – wider die persönlichen Erfahrungen der Erlebnisgeneration – auch zur Unumstößlichkeit, die Autonomie sei nicht herbeigebombt worden, folglich nicht wegen, sondern trotz der Attentate errungen worden.
Die SVP und die Selbstbestimmung
Was hat das nun mit dem alljährlichen Gedenken auf dem St. Paulser Friedhof zu tun? In diesem Jahr hielt auf Einladung des Südtiroler Heimatbundes (SHB) der FPÖ-Südtirolsprecher Werner Neubauer die Ansprache am Gedenkstein für Sepp Kerschbaumer und seine Mitstreiter Franz Höfler, Toni Gostner, Luis Amplatz, Jörg Klotz und Kurt Welser vor mehr als tausend Schützen, Marketenderinnen, Ehrengästen und Besuchern. Aus Tugenden und Taten Kerschbaumers und dessen Gefährten solle man die Kraft schöpfen, die Hindernisse auf dem Weg in eine selbst bestimmte Zukunft zu beseitigen.
Die Zukunft Südtirols könne weder eine Autonomie, noch eine (von der SVP als Ziel ihres Handelns propagierte) Vollautonomie sein, sondern einzig und allein die uneingeschränkte Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, welches ein unverbrüchliches Völker- und Menschenrecht darstellt. Neubauer berief sich auf den verstorbenen Völkerrechtler (und ÖVP-Abgeordneten) Felix Ermacora, der einst gesagt hatte, kein Staat der Erde könne auf Dauer einem Volk die Selbstbestimmung vorenthalten, auch Italien den Südtirolern nicht, aber wollen und fordern müsse man sie.
An der Feier nahm auch die stellvertretende SVP-Vorsitzende Martha Stocker teil, „seit 20 Jahren“, wie sie hinterher sagte. Sie bezog in Zeitungsinterviews sowie in Aussendungen nicht nur gegen Neubauers Gedenkrede Stellung. Sie habe „deplatzierte Äußerungen“ enthalten, und Neubauer habe eine „politische Wahlrede“ gehalten, was „der Würde des Ortes“ widerspreche. Dass sie überhaupt gegen den Auftritt des österreichischen Freiheitlichen war, kleidete sie in die Worte: „Die Kerschbaumer-Feier ist jedes Mal eine Zumutung, weil auf einem Friedhof politische Reden gehalten werden.“
Man fragt sich indes, warum sie überhaupt dort hingeht, wenn es ihr so zuwider ist. Dass in den Jahren zuvor auch SVP- und ÖVP-Politiker, wie die früheren Landesräte Sepp Mayr, Bruno Hosp, der ehemalige österreichische Bundesratspräsident Helmut Kritzinger und die Tiroler Landeshauptleute Alois Partl und Wendelin Weingartner keine unpolitischen Reden in St. Pauls hielten, scheint Martha Stocker entgangen zu sein. Und weil Neubauer – wie die in der Südtiroler Landtagswahl am 27. Oktober erstarkten „Los-von-Rom“-Parteien – Süd-Tiroler Freiheit, Freiheitliche und BürgerUnion – öffentlich die Selbstbestimmungsfrage aufwarf, glaubte sie, dem mit der Behauptung entgegentreten zu müssen: „…dabei hatte sich Sepp Kerschbaumer nie festgelegt für Selbstbestimmung oder Autonomie.“
Das widerspricht Aussagen, die die Historikerin Stocker in ihrem 2006 erschienenen Buch „Unsere Geschichte. Südtirol 1914-1992 in Streiflichtern“ getroffen hat, etwa in der Passage: „Entheimatung und Zukunftslosigkeit von jungen Leuten entluden sich dann in den Sprengstoffanschlägen und in der Forderung nach Selbstbestimmung.“
Sepp Kerschbaumer hatte in einem Rundschreiben vom April 1960 erklärt: „Tirol ist unser und muss unser bleiben. Und es wird nur dann unser bleiben, wenn wir alle entschlossen und bereit sind, dafür unser Letztes herzugeben.“ Noch als damaliger SVP-Ortsobmann von Frangart hatte Kerschbaumer im selben Jahr auf der SVP-Landesversammlung von seiner Partei gefordert: „Das Volk will die Selbstbestimmung, und die Partei muss dem Willen des Volkes Rechnung tragen.“
Im Februar 1961 erklärte er in seinem letzten Rundschreiben vor der „Feuernacht“: „Italien hat die heilige Pflicht, das in seinen Händen befindliche, gestohlene Gut – Südtirol – wieder zurückzuerstatten. Wir Tiroler wollen selbst frei entscheiden, mit wem wir zusammenleben wollen. Es gibt für uns nur eine Sicherheit, in Frieden und Freiheit als Tiroler weiter leben zu können, vereint mit allen übrigen Tirolern im Staate Österreich.“
Und auf dem aus Anlass der „Feuernacht“ verbreiteten BAS-Flugblatt unter der Losung „Die Stunde der Bewährung ist da!“ wurde in großen Lettern die Forderung erhoben: „WIR FORDERN FÜR SÜDTIROL DAS SELBSTBESTIMMUNGSRECHT!“ Das mag als klarer Beleg für das Ziel Kerschbaumers und aller seiner Mitstreiter sowie Epigonen genügen.
Die SVP-Politikerin Martha Stocker geriert sich hier als typische Vertreterin der Partei, die sich längst dieses Ziels entledigt hat, wiewohl sie die Selbstbestimmung weiterhin schamhaft als Feigenblatt im Statut führt. Bei so viel Entsorgungsgeschick der ehemaligen „Sammelpartei der Südtiroler“ muss man sich nicht wundern, dass der heutige Durchschnittssüdtiroler leichtfertig auf den Gebrauch der deutschen Sprache in den öffentlichen Ämtern verzichtet und sich nahezu gleichmütig dem „Siamo in Italia“ unterwirft. Er akzeptiert ebenso die bis heute amtlichen Namens-Kreationen des Deutschenhassers Ettore Tolomei aus der Ära des Faschismus und lässt sich von dessen Stein gewordenen Relikten – „Siegesdenkmal“, Beinhäuser, Mussolini-Konterfei am Bozner Finanzverwaltungsgebäude – Tag für Tag beleidigen.
Der Chimäre „Friedliches Zusammenleben“ opfert er sich, wie beispielsweise an Werbeauftritten der „Südtiroler Marketing Gesellschaft“ (SMG) festzustellen ist. Das auch von der maßgeblichen Regierungspartei in Bozen immer wieder herausgehobene „Südtirol(er)-Bewusstsein“ erschöpft sich darin, dass man sich im Sport als mehr oder weniger glühende Italiener bekennt, und liefert damit auch dem ORF die Rechtfertigung dafür, Südtiroler Athleten nur noch als „Italiener“ zu benennen. Zu allem Überfluss werden auch noch schenkelklopfend Österreicher-Witze gerissen. Aber dennoch wird stets nach der „Schutzmacht“ verlangt, wenn Rom scheibchenweise die angeblich „beste Autonomie der Welt“ entwertet.
Da ist Scham eigentlich die angebrachte Kategorie für diese geschichts- und rückgratlosen Akte der Selbstentäußerung.
Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.