Stellen Sie sich bitte einmal vor, es befindet sich ein Medikament auf dem Arzneimittelmarkt, dem seriöse wissenschaftliche Studien nicht nur die Unwirksamkeit, sondern auch noch gravierende Nebenwirkungen nachgewiesen haben. Zudem ist dieses Medikament 30 Prozent teurer als ein anderes, dessen Wirksamkeit und Verträglichkeit hinlänglich bestätigt wurde. Doch der Hersteller weigert sich strikt, sein Medikament vom Markt zu nehmen. Er zeigt sich völlig unbeeindruckt von den Studien und reagiert trotzig mit der Aussage: „Theoretisch ist es hocheffizient“. Undenkbar, nicht wahr?
In der Schulpolitik geschieht seit Jahrzehnten durchaus Vergleichbares: Seit über 40 Jahren werden in Deutschland Schüler als „Dauer-Versuchskaninchen“ eines Einheitsschul-Experiments missbraucht, dessen gravierende Nebenwirkungen bestens wissenschaftlich belegt sind: Gerade diejenige Schülerklientel (Kinder aus bildungsfernen Milieus), wegen der man diese Zwangsbeglückungsmaßnahmen angeblich durchführt, beraubt man ihrer Bildungschancen, denn diese Schüler werden an Gesamtschulen bedeutend schlechter gefördert als im gegliederten Bildungssystem.
Galt vor 50 Jahren das katholische Mädchen vom Lande als Inbegriff der Bildungsbenachteiligung, so wird heutzutage dem männlichen Gesamtschüler diese zweifelhafte Ehre zuteil. Selbstredend werden natürlich auch die Kinder aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern nicht annähernd so gut gefördert wie an einem Gymnasium. In Deutschland wird (nachdem man das Gymnasium seit Jahren erfolgreich „sturmreif“ geschossen hat) gerade ein so genanntes „zweigliedriges Schulsystem“ installiert, das aus Integrierten Gesamtschulen/Gemeinschaftsschulen und Gymnasien besteht.
Lethargische Elternreaktionen wie: „Mir doch egal, was die machen, das Gymnasium wird eh nicht angetastet“ sind fatal, denn die Demontage des Gymnasiums findet bereits seit Jahren auf breiter Front statt: Abschaffung der verbindlichen Schullaufbahnempfehlung, Abschulungsverbot, Losverfahren für die Vergabe von Gymnasialplätzen, diverse andere bildungsbürokratische Vorschriften zum Aufweichen der gymnasialen Bildungsstandards etc. Mit diesen Torpedos versenkt man das Flaggschiff Gymnasium, um das uns die ganze Welt beneidet!
Am Ende dieses Prozesses steht dann tatsächlich ein zweigliedriges Schulsystem – und zwar eines, das aus staatlichen Gesamtschulen und teuren Privatschulen besteht. Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass der Begriff „Gesamtschule“ die Zerschlagung des Gymnasiums impliziert, denn erst dann sind Gesamtschulen auch wirklich Gesamtschulen.
Es geht mithin um nichts Geringeres, als um die Qualität und den Erhalt der kostenlosen Premium-Bildungsanstalt „Gymnasium“, einer bewährten Schulform, die breiten Bevölkerungskreisen den sozialen Aufstieg ermöglicht hat und weiter ermöglicht!
Spricht die Tatsache, dass die allermeisten Gesamtschullehrer ihre eigenen Kinder nicht an einer Gesamtschule, sondern an einem Gymnasium anmelden, nicht Bände über die Scheinheiligkeit dieser als bildungspolitische Erlösungsformel verkauften Schulform?
Viele Grüße aus dem rebellischen Pfälzer Wald!
Dr. Bernd Franzinger ist Lehrer an einer Integrierten Gesamtschule, Schriftsteller, Kabarettist und Verleger. Er hat Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Philosophie studiert und in Erziehungswissenschaft promoviert. Er ist Autor eines neuen Buches „NO auf Bildungsreise: Außerirdische Anmerkungen zum deutschen Schulsystem“, das in brillanter Weise mit dem Gesamtschulwesen aufräumt.