Sinn und Unsinn der Ganztagsschule

Ganztagsschule für alle – Wie soll das funktionieren? Haben sich die Befürworter dieses Modells schon einmal darüber Gedanken gemacht, was das bedeutet? Wo sind die Lern- und Aufenthaltsräume? Wo die Computer, die heute für moderne Lernmethoden unerlässlich sind? Wo ist das kompetente Personal?

Es klingelt. Zwanzig Mädchen sitzen auf sechs verschiedene kleinere und größere Räume aufgeteilt in der Tagesheimschule. Drei Lehrpersonen kümmern sich darum, dass die Hausaufgaben ordentlich erledigt werden. „Können Sie mich abprüfen? Ich hab morgen Geschichtetest.“ „Natürlich! Das mache ich gern“, sage ich und lerne in einem Frage- und Antwortspiel auch noch etwas über Städte im Mittelalter. Nach fünf Minuten werden wir unterbrochen, weil ich schnell eine Gleichung durchrechnen sollte, die sich nicht ausgeht. „Minus mal minus gibt Plus – da liegt der Hund begraben!“ – „A so!“ Nach weiteren fünf Minuten mittelalterlichem Gesellschaftssystem schenkt mir Hanna ein strahlendes Lächeln für mein Lob und die Versicherung, dass sie alles bestens gelernt hat. Wenn doch nur alle so wären wie sie: eifrig und wissbegierig, liest Bücher, wenn sie nichts mehr zu lernen hat, und ist immer höflich und zuvorkommend.

Ich gehe in den nächsten Raum. Hier ist Lea in ein Computerspiel vertieft. „Hast du deine Mathematik-Hausaufgabe gemacht?“ – „Ja“ – „Bist du wirklich sicher, dass du alles hast?“ „Eine Nummer fehlt mir noch, die kann ich nicht“, ist die patzige Antwort. „Hol bitte dein Heft und lass sie mir anschauen, wir machen sie zusammen.“ Mit einem wütenden Schnauben steht Lea auf, läuft aus dem Raum, kommt mit dem Heft zurück und wirft es mir vor die Nase. „Ich hab´s eh erst bis übermorgen auf!“ und setzt sich wieder an den Computer. Muss ich mir so ein Verhalten bieten lassen? „Nicht in diesem Ton, Lea! So kannst du lange warten, bis ich dir helfe!“ Ich habe keine Sanktionsmöglichkeit, außer ihre Mutter zu informieren. Doch das hat wohl ebenso wenig Sinn wie beim letzten Mal, denn sie hat ihre Tochter in Schutz genommen und ihr Versagen auf Lehrer und Mitschülerinnen geschoben.

Ich verlasse den Raum und treffe am Gang auf Corinna, über die sich meine Kollegin beklagt hat, dass sie nicht in der Mathematik-Übungsstunde war. Ich stelle sie zur Rede und bekomme die Antwort „Das bringt ja eh nix und außerdem habe ich zu Hause jeden Mittwoch eine Nachhilfestunde.“ „Aber du weißt, dass es eine Vereinbarung gibt, dass du bei einer schlechten Schularbeitsnote die Übungsstunde besuchen musst.“ –„Okay, ja –nächste Woche“, verspricht sie mir. Ich fürchte, das es eine leere Versprechung ist und sie wieder versuchen wird, sich irgendwie zu drücken.

In der Bibliothek schaue ich Maria über die Schulter. „Du hast aber noch kaum was gerechnet, deine Klassenkameradinnen sind schon fast fertig.“ – „Ich bin fertig und würde gerne in den Garten gehen!“ sagt Melissa. Ich nicke und wende mich wieder Maria zu „Ach, ich hab keinen Bock! Wissen Sie, ich habe eine Mathematikallergie“, bekomme ich zu hören. Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich neben sie. Es bleibt ihr nun nichts anders übrig, als zu rechnen. Obwohl sie immer wieder versucht, mit den Mädchen um sie herum Kontakt aufzunehmen, hat sie die Aufgabe nach nicht einmal zehn Minuten geschafft.

Rebecca zeichnet ein Mannequin. „Bist du fertig?“ – „Nein, aber meine Mama will die Aufgabe mit mir machen, sie will wissen, was ich so lerne.“ Ich zweifle daran, dass das stimmt, weil die meisten Eltern froh sind, wenn die Kinder keine Aufgabe mehr zu Hause machen müssen. Es gelingt mir nicht, sie davon zu überzeugen. Elena bittet mich, ihren Aufsatz durchzulesen. Er strotz vor Rechtschreibfehlern und Stilblüten, aber auf meine Verbesserungsvorschläge bekomme ich immer nur die Antwort „Das ist doch wurscht.“ – Wozu lese ich es dann?

Es läutet und Elena nimmt mir das Blatt aus der Hand, stopft es in die Schultasche, schreit „Tschüüüs!“ und rennt hinaus. Ich sammle liegen gebliebenen Müll ein, stelle Stühle zurecht und mache eine Schülerin, die noch am Computer sitzt, aufmerksam, dass sie nach Hause gehen könne. „Ich muss das nur noch schnell ausdrucken, ich habe morgen ein Bio-Referat“. Der Text ist aus Wikipedia und enthält jede Menge Fremdwörter. „Möchtest du das wirklich morgen so präsentieren?“ frage ich. „Ja, ja, das geht schon, ich muss es eh nur vorlesen!“ Ich zucke resignierend mit den Schultern, warte bis sie fertig ist, sperre dann den Raum ab und gehe nach Hause.

Wenn drei Lehrer für eine Tagesheimgruppe von zwanzig Schülerinnen es kaum schaffen, alle Hausaufgaben zu kontrollieren und Hilfestellungen und Anleitungen zum effizienteren Lernen zu bieten, sowie sinnvoll mit Schülerinnen ihre Freizeit zu gestalten, wie sollte es gelingen, wenn alle 1000 oder noch mehr Schülerinnen einer Schule am Nachmittag zu betreuen sind? Wie stellt man sich eine individuelle Betreuung und Begleitung vor, wenn das nicht einmal in Kleingruppen möglich ist?

Können wir wirklich erwarten, dass die schlechteren Schülerinnen von den besseren lernen? Die Erfahrung zeigt, dass das nur in Einzelfällen gelingt. Sehr schnell verlieren Klassenkameradinnen die Geduld und geben lieber die Empfehlung, die Aufgabe abzuschreiben, als dass sie sich bemühen, sie den schwachen Schülerinnen zu erklären.

Interessen zu wecken und neugierig zu machen sind Aufgaben, die bereits vom Elternhaus erfüllt werden müssen. Dort beginnt Bildung in jeglicher Form, soziale wie wissenschaftliche, dort liegt der Grundstein für den Erfolg in der Schule und im späteren Leben. Es darf nicht das Ziel sein, alle Wege zu ebnen und den Kindern möglichst wenige Aufgaben zu erteilen.

Eltern suchen immer mehr die Schuld an den schlechten Noten nicht bei ihren Kindern, sondern bei den Lehrern. Sie untergraben die Autorität der Lehrpersonen, wenn sie verbal über diese herfallen und ihren Kindern noch die Empfehlung mitgeben, sich nichts gefallen zu lassen. Eine solche Haltung wird sich bei den Kindern auf ihrem späteren Arbeitsplatz fortsetzen. Sie werden auch hier Anweisungen von Vorgesetzten in Frage stellen und sich weigern, anstrengende Tätigkeiten auszuführen oder gar Überstunden zu leisten. Frustrationen sind vorprogrammiert, denn Glück und Zufriedenheit hängen unmittelbar mit dem Erreichen eines Ziels durch Leistung und Anstrengung zusammen.

Eigenverantwortliches Lernen gelingt nur, wenn schon Kleinkindern Verantwortung übertragen wurde. Jene Schüler, die immer am Gängelband der Eltern hängen, werden in Ganztagsschulen scheitern, weil niemand ständig hinter ihnen stehen kann, der ihnen sagt, was sie zu tun hätten. Für eine leider immer größer werdende Anzahl von Kindern, die zu Hause sich selbst oder dem Computer und dem Fernseher überlassen sind, ist Ganztagesbetreuung eine gewisse Chance, soziale Kontakte knüpfen zu können und einen geregelten Tagesablauf mit einem gesunden, warmen Mittagessen zu haben.

Schulversuche zur freiwilligen Nutzung einer Ganztagesbetreuung sind für viele Eltern und Schüler ein wertvolles Angebot. Es gibt aber immer noch viele Mütter, die nicht berufstätig sind und gerne ihre Kinder in ihrer Entwicklung fordern und fördern wollen. Für sie wäre eine Regel-Ganztagsschule ein wesentlicher Eingriff in die persönliche Freiheit.

Mag. Silvia Öller, gebürtige Oberösterreicherin, studierte in Salzburg Biologie und Erdwissenschaften (mit den Nebenfächern Physik, Chemie, Geologie und Mineralogie) für das Lehramt. Sie unterrichtete an einem Privatgymnasium in Bregenz Biologie, Physik und Chemie und war rund 15 Jahre lang in der freiwilligen Nachmittagsbetreuung tätig.

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