Wir wollen ein Europa der freien Nationen

Anders Fogh Rasmussen war voll des Lobes: „Wir schätzen das Engagement Ungarns für unser Bündnis“. Ausdrücklich begrüßte es der Nato-Generalsekretär anlässlich seines Besuchs in Budapest, dass – nach zwei Jahrzehnten ihrer Vernachlässigung – Ungarn seine Streitkräfte trotz haushaltspolitischer Sparzwänge ausbauen und stärker bei Nato-Einsätzen mitwirken werde, etwa in Luftüberwachungseinsätzen über baltischem Gebiet 2014 und 2015.

Rasmussen: „Das internationale Engagement Ungarns ist beispielhaft, seine Soldaten haben bei den Afghanistan- und Kosovo-Missionen professionelle Arbeit geleistet.“ Das erfüllt Ministerpräsident Orbán angesichts der Gefechtslage an der EU-Front mit Genugtuung. Denn das seit seinem Amtsantritt (Frühsommer 2010) überaus gespannte Verhältnis zu Brüssel hat soeben eine weitere Verschärfung erfahren.

Im Europa-Parlament zu Straßburg fand soeben im Beisein Orbáns eine Debatte über den „Bericht zur Lage der Grundrechte in Ungarn“ statt, den Rui Tavares, portugiesischer Abgeordneter der Euro­-Grünen, erstellt hatte. Darin heißt es, die jüngsten Verfassungskorrekturen stellten „systemische Veränderungen“ dar, zudem seien in Ungarn „besorgniserregende Tendenzen bezüglich der rechtsstaatlichen Ordnung“ festzustellen. Tavares schlug vor, das Land und seine Regierung unter Beobachtung zu stellen und dafür eigens eine neu zu schaffende Kommission einzusetzen.

Noch vor Beginn der Debatte über den Tavares-Bericht hatte Orbán gesagt, dass er sich über den Ausgang der Abstimmung keine Illusionen mache, wisse er doch zur Genüge, wie die Abgeordneten links der Mitte abstimmen würden, nämlich gegen Ungarn. Sozialdemokratische und liberale Abgeordnete betonten in der knapp zwei Stunden währenden Debatte, dass sie „Freunde“ Ungarns seien. Mithin trügen sie ihre Kritik aus „Sorge um die ungarischen Menschen“ und um die „Demokratie in Ungarn“ vor.

Hannes Swoboda, der österreichische Fraktionschef der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), richtete gleich mehrere kritische Fragen an Orbán: „Warum verlassen so viele Menschen Ungarn, wenn es dort so schön und gut ist? Warum kehren westliche Investoren Ungarn den Rücken, wenn dort alles floriert? Warum beschweren sich jüdische Menschen bei uns, dass der Antisemitismus in Ungarn überhand nimmt?“ Ihm konterte József Szájer, Mitbegründer der ungarischen Regierungspartei Fidesz und als solcher stellvertretender Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), indem er ihm vorwarf, die gegebenen Fakten stünden im Widerspruch zu Swobodas in Fragen gekleideten Behauptungen.

Guy Verhofstadt, ehedem belgischer Premier, jetzt Fraktionsvorsitzender der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), warf Orbán vor, er habe kein Recht dazu, von einem „Angriff gegen Ungarn“ zu sprechen, wenn vom Tavares-Bericht die Rede sei. Manfred Weber von der CSU und stellvertretender EVP-Fraktionschef, warf hingegen den Befürwortern des Tavares-Berichts vor, mit zweierlei Maß zu messen. Er erinnerte in diesem Zusammenhang zu Recht daran, dass bezüglich Rumäniens oder Bulgariens eine solche Debatte nie stattgefunden hat.

In der Abstimmung hießen 370 der 701 Abgeordneten den Bericht gut, 249 stimmten mit Nein, 82 enthielten sich. Für die entsprechende Entschließung stimmten die Fraktionen der Sozialisten und Sozialdemokraten (SPE), der Linken und Kommunisten (ELP), der Liberaldemokraten (ALDE) sowie der Grünen (EGP). Christliche Demokraten und Volksparteien (EVP/EPP) sowie Konservative (Torys) und Reformisten (ECR) waren ebenso dagegen oder enthielten sich wie die Fraktion europäischer Rechtsparteien („Europa der Freiheit und Demokratie“; EFD) sowie viele fraktionslose Abgeordnete.

In der Resolution wird der Regierung Orbán ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags angedroht, an dessen Ende der Entzug der ungarischen EU-Stimmrechte stünde. Dennoch dürfte es nicht zum Äußersten kommen, denn dazu wäre nicht nur eine Zweidrittelmehrheit im Europaparlament nötig, welche gegen die stärkste Fraktion EVP/EPP, der Orbáns Fidesz angehört, nicht erreicht werden kann. Dazu bräuchte es auch einen Mehrheitsbeschluss im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs. Dieser wird – nach der Blamage weiland anno 2000 gegen Österreich – kaum zustande kommen.

Ungarn wehrt sich

Gleichwohl veröffentlichte Budapest ein Memorandum, in dem es heißt, der Tavares-Bericht tue Ungarn und seinem Volk zutiefst Unrecht und messe mit zweierlei Maß. Daher sei er strikt zurückzuweisen. Orbán sagte in einem Hörfunkinterview, „seit der Herrschaft des Sowjetreichs“ habe „keine andere äußere Macht versucht, offen die Souveränität Ungarns einzuschränken". Die Magyaren wollten „nicht in einem Europäischen Reich leben, mit einem Zentrum Brüssel, von wo aus sie uns an der Peripherie sagen, was wir zu tun und lassen haben".

Schon in Straßburg hatte Orbán in scharfen Worten Debatte und Mehrheitsresolution gegeißelt: Der Tavares-Bericht sei „beleidigend“ und stelle eine Verletzung der EU-Gründungsverträge dar, weil damit „ein Staat der EU unter Vormundschaft gestellt" werden solle. „Wir wollen kein Europa, wo Bevormundung herrscht und die Freiheit beschränkt wird, anstatt sie zu gewährleisten. Wir gehören zu denjenigen, die nicht ein Europa der Unterworfenheit, sondern ein Europa der freien Nationen wollen.“

„Hoch lebe ein Europa der freien Nationen“, rief Orbán den Parlamentariern zu. Er forderte sie auf, sich gefälligst „aus den inneren Angelegenheiten der Ungarn herauszuhalten“. Die Magyaren hätten es nicht nötig, vor sich selbst geschützt zu werden: „Wir Ungarn sind ein freiheitsliebendes, demokratisches Volk, das über sein eigenes Schicksal selbst entscheiden kann.“

Auch das ungarische Parlament reagierte mit einer scharfen Erwiderung auf die Straßburger Entschließung: „Wir verabschieden eine Resolution, um die Souveränität Ungarns zu verteidigen." Die Regierung dürfe sich „dem Druck aus Brüssel und Straßburg nicht beugen", heißt es in dem mit nur sechs Gegenstimmen angenommenen Text.

Herrolt  vom Odenwald ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.

zur Übersicht

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)

Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print




© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung