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Tiefe Verachtung

Meine Tätigkeit als Assistent an einem Institut für Genetik einer deutschen Universität sollte für ein Probejahr an einem österreichischen Gymnasium unterbrochen werden. Mein damaliger Chef versicherte mir, einen Assistentenposten frei zu halten. Karriere nicht ausgeschlossen.

In Österreich stellte ich mit Staunen fest, dass das Unterrichten eine anstrengende Sache ist. Weniger begabte Schüler sind durch ihre schiere Existenz eine gewisse Kampfansage, begabte Schüler noch mehr, weil sie regelmäßig bohrende Fragen stellen. Auch gelangweilte Schüler sind eine Herausforderung, wenn man bei ihnen versucht, zumindest halbwegs Interesse für das Fach zu erwecken.

Schnell wurde mir klar, dass der Lehrer mehr machen kann, als Wissen zu vermitteln. Der Lehrer ist ein Weltbildvermittler, er kann jungen Menschen beibringen, wie man Wissen einordnet, wie man kritisch denken lernt und wie man Begeisterung entwickeln kann. Nachdem ich das verstanden hatte, bin ich dieser Idee als Lehrer bis zu meinem letzten Schultag treu geblieben. Ich habe mich auch nie gescheut, den Schülern öffentlich agierende Ideologen, Schwafler und Blender als solche vorzuführen. Gerade in meinen naturwissenschaftlichen Fächern war das leicht zu bewerkstelligen.

Während meiner Unterrichtstätigkeit erschien um die Jahrtausendwende die erste PISA-Studie, die von den Medien ignoriert wurde. Die damalige PISA-Studie reihte Österreich in allen Kategorien jeweils im ersten Drittel aller Teilnehmerländer ein. PISA 2000 erbrachte für Österreich so hervorragende Werte, dass diese von den Medien nicht berichtet wurden. „Good news“, vor allem im politisch-pädagogischen Bereich, sind für Medien unbrauchbar.

Drei Jahre später kam es zu einem so genannten „Absturz“ der Ergebnisse. Man muss weder ein Statistik- noch ein sonstiger Experte sein, um zu erkennen, dass hier Mess- oder Rechenfehler vorliegen müssen. Denn innerhalb von drei Jahren änderten sich weder Lehrer noch Schüler noch Lehrpläne so gravierend, dass es zu einem derartigen Leistungsabsturz kommen konnte. Die eklatanten Schwächen der PISA-Studie blieben unseren selbsternannten „Bildungsexperten“, die plötzlich wie rot-grüne Aliens in der Öffentlichkeit erschienen waren, verborgen, sind aber echten Fachleuten aus der Wissenschaft längst bewusst.

Ein Aspekt wird sogar die Lehrer überraschen. Selbst wenn alle österreichischen Schüler einen Sprung nach vorne machten, würden die Bildungs-Risikogruppen nicht kleiner, weil die Daten nachträglich so „normalisiert“ werden, dass ein bestimmter Teil immer die Risikogruppe bildet. Andernfalls würde PISA seinen politischen Zweck nicht erfüllen, nämlich Argumentationshilfen für selbsternannte „Bildungsexperten“ zu liefern.

Nachdem vor ungefähr zehn Jahren urplötzlich eine schauderhaft anmutende Herde von „Bildungsexperten“ die öffentlichen Bühnen betreten hatte, folgte eine quälende Kakophonie ungebetener Wortspenden, die bis heute andauert. Kaum eine TV-Talkshow, kaum ein Wochenmagazin oder eine Tageszeitung, in der uns nicht Selbstdarsteller, die nach ihrer Schulzeit nie eine Klasse von innen gesehen haben, die Schulwelt erklären. Öffentliches Narrentum ersetzt Wissen und Ausbildung.

So diffamierte Ostern 2013 „Bildungsexperte“ Andreas Salcher in einem Interview der Vorarlberger Nachrichten die Lehrer pauschal, als er meinte, dass die österreichischen Lehrer „Osterhasenpädagogik“ betrieben. Sie versteckten ihr Wissen vor den Schülern und diese müssten es mühsam suchen. Niemand wusste, was er mit diesem Unsinn gemeint hat, Salcher weiß es wahrscheinlich selbst nicht. In einem seiner Bücher („Der talentierte Schüler und seine Feinde“) heißt es: „Mathematik ist wichtig, Tanzen ist auch wichtig“. So sieht also die neue Schulwelt eines „Bildungsexperten“ aus – der intellektuelle Tiefgang des 21. Jahrhunderts.

Ein weiterer „Bildungsexperte“ ist Bernd Schilcher aus der schönen Steiermark. Wäre er nicht ein erklärter Favorit von Bildungsministerin Claudia Schmied, so hätten ihn „Falter“ und einige Boulevardzeitungen öffentlich längst in Stücke gerissen. Denn seine geschiedene Frau darf seit Jahren in ihrem autobiografischen Buch („Ich bin ich“ von Judith Jannberg (Fischer Taschenbuch Verlag)) ungestraft behaupten, von ihrem Mann jahrelang körperlich und seelisch misshandelt worden zu sein. Ein Frauenquäler als „Bildungsexperte“. In Österreich ist alles möglich, solange man die richtigen Beziehungen zu den richtigen Politikern pflegt und die Medien bei diesem infamen Spielchen (schweigend) mitmachen.

Sind nicht die Lehrer die wahren Experten?

Erstaunlicherweise werden Lehrer so gut wie nie zur Bildungspolitik befragt, und wenn, dann haben sie es mit tendenziös argumentierenden „Experten“ zu tun, wie Mag. Verena Nägele am 12. Mai 2013 in der ORF-Sendung „Im Zentrum“. Sie war die einzige fachkundige Diskussionsteilnehmerin, was daran zu erkennen war, dass die anwesenden „Experten“ sofort das Thema wechselten, wenn die Kollegin die Kompetenzkarte ausspielte. Als der Moderator Nägele als Vertreterin der Lehrergewerkschaft fragte, wie sie zu den vielen schulautonomen Tagen stehe, und sie sagte, dass die Lehrergewerkschaft diese längst abschaffen wollte, die Schüler und Eltern aber dagegen waren, war das Thema augenblicklich erledigt.

Auch zu den PISA-Resultaten haben Lehrer etwas zu sagen. So bekannte eine Lehrerin aus Korea, dass in ihrem Land nur die besten Schüler aus den besten (Privat)schulen an den PISA-Testungen teilnehmen. In Österreich werden die Schüler gänzlich anders ausgewählt, was bedeutet, dass internationale Vergleiche von PISA-Zahlen nichts sagend sind.

Trotzdem veranstalten (uninformierte) Journalisten jedes Mal einen Mords-Zinnober, wenn wieder berichtet werden darf, wie wenig unser viel zu teures Bildungssystem leistet. Erstens leistet das österreichische Bildungssystem die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit der Welt, zweitens fließt ein großer Teil des Bildungsbudgets nicht in die Schulen, sondern in eine aufgeblähte unproduktive Verwaltung. Insider wissen, dass das österreichische Unterrichtsministerium eine Geldschleuder ist.

Erst vor einem Jahr schockte DDr. Manfred Spitzer die Öffentlichkeit mit seinem Buch „Digitale Demenz“, als er – wissenschaftlich fundiert – berichtete, dass der exzessive Gebrauch des Internets die Schüler systematisch verblödet, wobei Mädchen wegen ihrer sozial motivierten stärkeren Nutzung sozialer Netzwerke mehr gefährdet sind als gleichaltrige Burschen. Für uns Informatiklehrer ist das nichts Neues, wir wissen das seit vielen Jahren.

Wir Lehrer sind schon deswegen die wahren Bildungsexperten, weil nur wir über zeitliche Längsschnittvergleiche verfügen. Ein Lehrer, der mindestens zwanzig Jahre unterrichtet hat, weiß wie kein anderer, wie die Jugendlichen ticken, wie sie gestern und vorgestern getickt haben. Keine Vergleichsstudie kann dieses Erfahrungswissen ersetzen. Innerhalb der Lehrerschaft werden diese Themen sehr wohl diskutiert, aber Redaktionen unserer Medien hören lieber auf Blenderlegenden. So etwas lässt sich in einer oberflächlichen Mediengesellschaft besser verkaufen.

Gesamtschule – Scheindiskussion über Nebensächlichkeiten

Wie schlampig unsere Gesellschaft diskutiert, erkennt man an einfachen Details. So wird seit Jahren über die Einführung der Gesamtschule – auch „gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen“ genannt – diskutiert, aber niemand hat es der Mühe wert gefunden zu fragen oder zu erklären, wie diese aussehen soll. Eher Hauptschullehrpläne? Eher Gymnasiumslehrpläne? Zwei Leistungsgruppen? Vier Leistungsgruppen? Zweite Fremdsprache? Wie sieht die „innere Differenzierung“ genau aus? Ist diese beim bereits einsetzenden Lehrermangel überhaupt machbar?

All das wären entscheidende Fragen, aber damit setzen sich „Bildungsexperten“ mangels Kompetenz nicht auseinander. Stattdessen werden der Öffentlichkeit Gemeinplätze wie „Integration“, „Inklusion“, Bildungsgerechtigkeit“ usw. als intellektuelles Fastfood zum Fraß vorgeworfen, über das nachzudenken nicht lohnt.

Ein Faktum wird beinahe schon pathologisch ignoriert. Eine „Gesamtschule“ der Zehn- bis Vierzehnjährigen gibt es in anderen Ländern zwar nominell, nicht jedoch in der Realität. Da sich das Bildungsbürgertum nirgendwo auf der Welt das Bildungsprinzip nehmen ließ und sich auch in Zukunft nicht nehmen lassen wird, entstanden überall dort teure Privatschulen, wo der Staat versuchte, Ergebnisgleichheit durch Nivellierung zu erreichen.

Eine entscheidende Frage hat kürzlich der Neuseeländische Professor John Hattie in seiner Metastudie „Visible Learning“ beantwortet. Welcher Faktor unter Tausenden ist derjenige, der am ehesten zu einem Bildungserfolg führt? Es sind weder Internet, noch Overheadprojektoren, schon gar nicht „blended learning“ (ein neudeutscher Begriff, der kurz nach seiner Bejubelung wieder verendet ist), nicht „eigenverantwortliches Lernen“, auch nicht irgendein anderer Begriff aus der flachen Welt der Reformpädagogik. Der stärkste messbare pädagogische Wirkungsfaktor ist die Person des Lehrers.

Der Lehrerberuf ist trotzdem erfüllend

Diese Erkenntnis provoziert am Ende meiner Lehrerlaufbahn unabwendbar die Frage aller Fragen: Würdest du, wenn du mit deiner Erfahrung noch einmal zur Welt kämst, wieder Lehrer werden wollen?

Ja, ich würde es wieder machen, denn ich habe den Wechsel von der Wissenschaft in die Schule nie als Abstieg empfunden. Der Lehrerberuf hat einen unschätzbaren Vorteil. Es ist ein grandioser Beruf, wenn man ihn als Berufung auffasst. Der Lehrerberuf ist trotz aller Belastungen, die in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben, ein wertvoller Beruf. Man ist von jungen Menschen umgeben, die man über Jahre hinweg vom Kind bis zum Erwachsenen begleiten darf. Gibt es etwas Schöneres?

Bei all dieser Erkenntnis darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sehr wohl soziale Probleme gibt. Es gibt Jugendliche, die allein gelassen sind, in der Familie keine Motivation erfahren und daher eine spezielle Betreuung brauchen. Niemand weiß das besser als Klassenvorstände und andere Lehrer, an denen vernachlässigte Schüler in den Pausen hängen wie Kletten. Ganztagsbetreuung als Angebot ist daher eine wichtige Option, aber das allein löst noch keine Probleme, wie manche „Experten“ glauben. Dreh- und Angelpunkt aller Chancen eines jungen Menschen sind weder Schulstrukturen noch technische Fragen. Wer das glaubt, ist ein „Experte“ oder Träumer, meist beides. Dreh- und Angelpunkt aller Chancen sind natürliche Begabung, Familie und Lehrer. Punkt.

Nochmals Lehrer werden? Ja! Ich würde es wieder machen, ich würde es mir aber dreimal überlegen, nochmals in Österreich Lehrer werden zu wollen. Meine Frau und ich bekamen zu Beginn unserer Lehrertätigkeit die Chance, an einem privaten College in Toronto die Lehrerlaufbahn zu beschreiten. Damals habe ich mich für Österreich entschieden, heute würde ich Kanada den Vorzug geben. Dies nicht wegen des Verdienstes, sondern ausschließlich wegen der erkennbar höheren gesellschaftlichen Wertschätzung.

Ich bereue es keine Sekunde, Lehrer geworden zu sein, und ich erinnere meine Kollegen gelegentlich daran, darauf stolz zu sein, einen großen Beruf ausüben zu dürfen. Meine tiefe Verachtung gehört den Leuten, die unter dem Deckmantel der Diskussion und der Meinungsfreiheit auf dem Lehrerberuf herumtrampeln, weil in einer gehirnweichgespülten und smartphonisierten Boulevardmediengesellschaft Oberflächlichkeit und Blendertum mehr zählen als Bildungsbegeisterung. Sollte es den „Bildungsexperten“ gelingen, mit Hilfe abseitiger Schulstrukturdebatten und einem fortlaufenden Lehrerbashing – um es neudeutsch auszudrücken – gleichermaßen teure wie nutzlose Scheinreformen herbeizuschwafeln, wird sich der bereits begonnene Lehrermangel weiter beschleunigen. Wer will schon einen Beruf ergreifen, in dem man es inkompetenten „Bildungsexperten“, deren Fachwissen in der Öffentlichkeit enorm überbewertet wird, nie recht machen kann.

Die nächste Generation wird einen hohen Preis dafür zahlen, dass erfahrene und verantwortungsbewusste Lehrer heute nicht ernst genommen werden und wir uns von dilettantisch-zynischen Medien laufend versalchern, verschilchern und androschisieren lassen.

Mag. Dr. Rudolf Öller, Jg. 1950;
Gebürtiger Oberösterreicher; Studium „Biologie und Erdwissenschaften“ in Salzburg; Studium der Genetik mit Dissertation an der Universität Tübingen;
Unterricht Biologie, Physik, Chemie, Informatik an einem (katholischen) Privatgymnasium, einer privaten BHS und einem öffentlichen Gymnasium in Bregenz.

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