Mit der im September des Vorjahres von Mario Draghi erfolgten Erkärung, die EZB werde künftig „unbegrenzt“ Staatsanleihen bedrängter Euroländer aufkaufen, erlangte die Schulden- und Währungskrise Eurolands eine neue Dimension. Bedeutete diese Ankündigung doch nichts anderes, als dass die Eurozone – im strikten Widerspruch zu den im Maastrichter Gründungsvertrag niedergelegten Regeln – in eine Haftungsgemeinschaft und Transferunion umgewandelt werden soll. Wie formulierte es die derzeitige IWF-Chefin Christine Lagarde so entwaffnend: „…wir mussten Verträge brechen, um den Euro zu retten.“
Die EZB, die ihrer Satzung gemäß zur Aufrechterhaltung der Währungsstabilität verpflichtet ist, maßte sich damit die Übernahme von fiskalischen und „sozialen“ Aufgaben an. Damit ist ihr Mandat klar überschritten. Zudem verliert sie den letzten Rest des Anscheins politischer Unabhängigkeit. Die Bewahrung der Stabilität der Gemeinschaftswährung und eine selektive Staatsfinanzierung haben miteinander nämlich nicht das Geringste zu tun.
Wer heute die Schuldenunion zur Voraussetzung der Bewahrung des Euro erklärt, sollte einen Blick über den Atlantik werfen: Die USA kennen keine Schuldenunion und dennoch gibt es den Dollar seit mehr als 200 Jahren. Jeder der 50 Bundesstaaten haftet alleine für seine Verbindlichkeiten – und geht im Fall der Fälle eben Pleite. Davon, dass die intendierte „Rettung“ des Euro oder der maroden Staaten durch serienweise Vertragsbrüche, zwecks der Etablierung gegenseitiger Schuldbürgschaften, gelungen ist, kann keine Rede sein. Welcher über ein Minimum an Urteilskraft verfügende Bürger wird je wieder Vertrauen zu Akteuren fassen, die ihre Unseriosität bereits auf so eindrucksvolle Weise bewiesen haben? Wenn es ausgerechnet solche professionellen Hütchenspieler sind, die fortgesetzt und wortreich die „Wiederherstellung des Vertrauens der Märkte in den Euro“ beschwören, handelt es sich dabei um eine beispiellose Chuzpe.
Mehr als fünf Krisenjahre und einige Jahre „Eurorettung“ liegen nun hinter uns. Fazit: Nicht nur um Griechenland steht es heute schlechter als je zuvor. Das europäische Esperantogeld wird in die Geschichte eingehen als die erste Währung der Welt, die – vor ihrem schmählichen Scheitern – ein rundes Drittel der Zeit ihres Bestehens „gerettet“ werden musste.
Dass das deutsche Verfassungsgericht, das dieser Tage über die Frage zu entscheiden hat, ob mit der Politik der EZB eine Verletzung des Deutschen Grundgesetzes einhergeht, sich gegen die von den Pleitekandidaten (inklusive Frankreich) gewünschte Fortsetzung der beispiellosen Verschuldungsorgie stellen wird, darf ernsthaft bezweifelt werden. Zu mehr als windelweichen und, wie sich in der Vergangenheit schon mehrfach gezeigt hat, in jedem Fall belangslosen „Auflagen“ werden die seltsam gewandeten Damen und Herren Richter sich kaum aufzuschwingen getrauen – trägt Deutschland doch bekanntlich eine niemals endende, „besondere Verantwortung“ für Europa.
Der Ökonom und Präsident des Münchner ifo Instituts, Hans-Werner Sinn, beschreibt in seinem Buch „Die Target-Falle“ (Untertitel: Gefahren für unser Geld und unsere Kinder) schonungslos, welche Folgen die von den Schuldnerländern gegen deren Gläubiger durchgesetzte Schuldenkollektivierung nach sich ziehen wird. Nicht nur, dass damit eine Genesung der maroden Volkswirtschaften der Eurozone nachhaltig unterbunden wird (weil notwendige, aber unpopuläre Anpassungsprozesse dank unbegrenzt verfügbaren, billigen Geldes niemals in Angriff genommen werden), steht nicht weniger als ein erheblicher Teil der Auslandsvermögen der (noch) wirtschaftlich gesunden Länder Eurolands auf dem Spiel. Die im Falle des Auseinanderbrechens der Gemeinschaftswährung endgültig abschreibbaren Forderungen Deutschlands werden vom Autor per August 2012 mit rund 700 Mrd. Euro(!) beziffert. Holländer und Finnen, die beiden anderen „Target-Kreditoren“, sitzen – zusammen mit den Deutschen – in der Finanztitanic. Die kreuzt – mit ihren wehrlosen Gläubigern, leider aber ohne Navi, Kompass und Sextant an Bord – mitten zwischen Skylla und Charybdis.
Es geht, wie Sinn elaboriert darlegt, nicht etwa um Gelder von Banken, anonymen „Spekulanten“ oder internationalen Kapitalfonds. Hier stehen schlicht und ergreifend die mühsam zusammengekratzten Spargroschen von Krethi und Plethi im Feuer – das Geld von Sparern und Rentnern. Die werden es gewiss mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass in Südland und Frankreich weiterhin kein Mensch daran denkt, die Ärmel hochzukrempeln, sondern munter – und auf ihre Kosten – Arbeitszeiten verkürzt und Beamte gemästet werden.
Den im Target-System aufgelaufenen Salden zugunsten Deutschlands, Hollands und Finnlands stehen keinerlei pfändbare Realwerte gegenüber. Sie können, dank der von Grund auf faulen Konstruktion des Eurosystems und der frivolen Geldpolitik der EU, niemals fällig gestellt werden. Die Segnungen demokratischer Abstimmungssysteme, die sich im EZB-Rat dadurch ausdrücken, dass eine solide Mehrheit von 70 Prozent der Debitoren eine machtlose Minderheit von 30 Prozent der Kreditoren nach Lust und Laune ausplündert, werden hier in einer selten augenfälligen Weise offenbar.
Dass es in Pleitestaaten wie Griechenland und Portugal keine strukturelle Verbesserung geben kann, so lange es dort nicht zu realen Abwertungen durch Lohn- und Preiskürzungen in der Größenordnung von etwa 30-35 Prozent kommt (die vermutlich nur um den Preis von Bürgerkriegen durchzusetzen wären), wird sich – da ja ein Austritt aus der Eurozone von allen Verantwortlichen unisono zur Unmöglichkeit erklärt wird – als Sargnagel für den Euro herausstellen. Es wird nicht möglich sein, dass der Süden Europas dauerhaft von im Norden erpressten Schutzgeldern lebt. Dass die deutschen Steuerzahler, als faktisch einzig nennenswerte Financiers der EU, sich von vertragsbrüchigen Eurokraten – die in Tateinheit mit dem ihre Interessen mit Füßen tretenden Deutschen Bundstag handeln – nicht auf Dauer werden ausnehmen lassen, kann ebenfalls als sicher gelten.
Heute rächen sich die deutschen Sündenfälle der Vergangenheit. Jetzt nimmt – dank einer auf Appeasement bedachten Europapolitik – das internationale Kesseltreiben gegen Deutschland stetig an Intensität zu. Welche Zugeständnisse heute auch immer gemacht werden: Es ist doch stets zu wenig. Gegen grundsätzlich auf Seiten der Schuldner stehende internationale Besserwisser und deren fügsame Journaille ist es schwer anzukommen. Angesichts der in den USA herrschenden Rechtslage erscheinen die von dort kommenden Zurufe, Deutschland möge doch endlich den Widerstand gegen die Schuldengemeinschaft und die Auflage von Eurobonds aufgeben, besonders unbegreiflich (an eine Verschwörung wird ja niemand denken, der auch pure Dummheit für eine mögliche Erklärung hält).
Indessen werden die, ob der Verfehlungen vieler Deutscher in der Vergangenheit, von allerlei Philistern mahnend erhobenen Zeigefinger, die Bürgen und Zahler von heute mit Sicherheit nicht in alle Ewigkeit beeindrucken. Massive Spannungen und tiefgehende Zerwürfnisse zwischen Gläubigern und Schuldnern sind also programmiert. Der Euro – ein Friedensprojekt? Was für ein zynischer Witz…!
Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.