In Freiluft-Cafés entlang der Passer-Promenade sitzen Touristen und blinzeln in die Sonne. Gäste, die das am reißenden Gebirgsfluss gelegene Städtchen Meran vor allem wegen der von alters her gesundheitsfördernden Trauben-Kur aufsuchen, genießen ihr erstes Glas. Urplötzlich durchbricht rhythmischer Peitschenknall von Goaslschnöllern die wohltuende Leichtigkeit selbstgenügsamen Daseins. In Gruppen ziehen rot-weiße Fahnen schwenkende Weiberleit und Mander am Kurhaus vorbei zum Sandplatz, die einen in Tracht, die andern in Freizeitkleidung, nicht wenige im Festtagsgewand.
Rundum sind Stände errichtet worden, Funktionäre Südtiroler Parteien sowie Vertreter des Südtiroler Heimatbunds (SHB) diskutieren mit interessierten Passanten und drücken ihnen Broschüren in die Hand. Folkloristisch-musikalische Darbietungen sorgen für gute Stimmung, Volkstanzgruppen und Schuhplattler lösen einander ab.
Aus Flandern sind Flaggenschwinger auf dem Meraner Sandplatz, ein Traditionsverband aus dem Veneto marschiert im Trommelschlagschritt vorüber und gerät ob der Klänge der „Scottish bagpipers“ (Dudelsackspieler) beinahe aus dem Schritt. Der isländische Chor „Heklurnar“ trägt wehmütige Lieder aus dem Freiheitskampf gegen die Dänen vor. Und bald tanzen Einheimische und Gäste nach fetzigen Rhythmen der krachledern gewandeten Musikgruppe „VolxRock“. Womit sich zeigt, dass eine höchst politisch motivierte Initiative, der die Zukunft Südtirols am Herzen liegt, binnen kurzem den Charakter eines Volksfestes angenommen hat, bei dem sich mehr als zehntausend Besucher aus nah und fern auf dem erstmals in Südtirol stattfindenden „Unabhängigkeitstag“ ein farbenfrohes Stelldichein geben.
Eine in ein fröhliches Fest eingebettete Kundgebung – das ist es, was die Initiatoren unter Führung des traditionsreichen Südtiroler Schützenbunds (SSB) beabsichtigten. Unter dem Motto „Jetzt! Für mehr Freiheit und Unabhängigkeit" wollten sie zeigen, dass die Tiroler südlich des Brenners über ihre Zukunft nachdenken und sich anschicken, sie selber in die Hand zu nehmen.
Nicht in einem Aufmarsch seiner Kompanien und Bataillone unter Trommelwirbel wie im Jahr zuvor, der die italienischen Sicherheitsbehörden zu einem ausnahmezustandsartigen Aufgebot an Staatspolizei, Geheimdienstlern und Carabinieri veranlasste, sollte sich der Schützen-Auftritt erschöpfen, sondern ein Fest verschiedener Völker sollte es werden, die eines gemeinsam haben: Sie treten für die Unabhängigkeit und Freiheit ihrer Heimat ein. Die kurzweilige Festivität ist zweifellos ebenso gelungen wie die lautstarke Bekundung des politischen Willens Tausender, denen es um das „Los von Rom“ bitter ernst ist.
„Die Krise hat in den letzten Jahren viele wachgerüttelt, der Wunsch nach einem freien Südtirol wird immer größer“, sagt eine selbstbewusst auftretende junge Frau. „Wir haben unsere eigene Sprache und unsere eigene Kultur. Wir sind keine Italiener, und das soll auch so bleiben“, unterstützt sie ein junger Mann, dessen T-Shirt die Aufschrift „Dem Land Tirol die Treue“ trägt, und fügt hinzu: „Wir sind gegen unseren Willen bei diesem Staat.“ „Es gab bis vor kurzem Leute, die keine Befürworter der Unabhängigkeit waren, aber viele haben jetzt ihre Meinung geändert“, ergänzt seine Freundin. „Wir wollen über unsere Zukunft frei entscheiden können, und den Weg dorthin möchten wir frei wählen. Wir wollen uns nicht vor uns selber fürchten, vor der eigenen Freiheit, Selbstbestimmtheit und vor dem eigenen Mut“, ruft Verena Geier, eine kesse Marketenderin, den Teilnehmern zu, die sie namens des SSB begrüßt.
Bart De Valck aus Flandern und Matteo Grigoli aus dem Veneto legen Beweggründe für den Kampf ihrer Volksgruppen um Unabhängigkeit dar. Christopher White aus Schottland klärt über das für 2014 festgelegte Unabhängigkeitsreferendum in Schottland auf. Anna Arqué aus Katalonien und Enaut Arretxe Agirre aus dem Baskenland berichten unter tosendem Applaus vom Freiheitskampf ihrer Landsleute. Für die Isländer, die 300 Jahre lang unter dänischer Fremdherrschaft standen und dann die lang ersehnte Freiheit erlangten, spricht Jóna Fanney Svavarsdóttir und ermuntert die Südtiroler, die „erst“ seit 95 Jahren zu Italien gehören. Klaus Tschütscher, ehemaliger Regierungschef des Fürstentums Liechtenstein, vermeidet zwar Äußerungen, welche ihm als „Separatismus-Empfehlung“ ausgelegt werden könnten, zeigt aber anhand seines Landes (nur 160 Quadratkilometer Fläche und lediglich 37.000 Einwohner) auf, wie lebensfähig ein Kleinststaat sein kann. Sympathie für das Begehr von Organisatoren und Zuhörerschaft lässt er dabei durchaus durchblicken.
Selbstbestimmung auf dem Vormarsch
Ob die Südtiroler Verfechter einer Freistaatslösung, wie die dortigen Freiheitlichen, Liechtenstein zum Vorbild nehmen; ob das Ziel, wie es die Partei Süd-Tiroler Freiheit ansteuert, die Vereinigung mit Tirol und damit Rückgliederung nach Österreich ist; oder ob es diffuser ist, wie bei der Bürger Union, die von einer „wahren Europaregion Tirol“ spricht – zweierlei eint die Landtagsopposition: Sie verlangt die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts und folgt der Devise „Weg von Italien“.
So bereitet die Süd-Tiroler Freiheit für Herbst ein Selbstbestimmungsreferendum vor und sammelt eifrig Unterschriften für die „Internationale Kommission Europäischer Bürger“ (ICEC), welche sich für die formale Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts als Grund- und Menschenrecht einsetzt. Mehr als 50 000 Menschen haben bereits die Erklärung „Ich unterstütze die Initiative für das Recht auf Selbstbestimmung aller europäischen Völker, welches von der Europäischen Union formal als Grund- und Menschenrecht anerkannt werden sollte, und fordere Unterstützung für alle Europäer, ihre Nationen und Institutionen, sollten sie die Ausübung dieses Rechts in Anspruch nehmen wollen" unterzeichnet, was im Zeitalter des Internets selbstverständlich auch unter https://www.europeancitizensdecide.eu/petition.php?language=8 möglich ist.
Die drei oppositionellen Landtagsparteien stellen sich damit vehement gegen die seit 1945 in Südtirol regierende Sammelpartei SVP, deren Ziel das Erringen der „Vollautonomie“ ist. Darunter versteht sie, „im Zusammenwirken mit Österreich“ Italien Zuständigkeiten auf den Politikfeldern Bildung, Steuern und innere Sicherheit (eigene Polizei) abzutrotzen, somit den Weg der „inneren Selbstbestimmung“ weiter zu beschreiten. Womit die SVP allerdings eingesteht, dass die von ihr bisher als „beste Autonomie der Welt“ gerühmte Selbstverwaltung der Provinz Bozen-Südtirol eine Teil-, allenfalls eine Halbautonomie ist, welche Rom in den vergangenen beiden Jahren nahezu bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat.
Elmar Thaler, Landeskommandant des SSB, prangert das Zaudern vieler Verantwortungsträger an. Viele Südtiroler wünschten sich als Ziel die „Loslösung von Italien“ und wollten Taten sehen, dies zu erreichen. Es gebe dafür kein fertiges Rezept, schon gar kein Patentrezept, Wege täten sich aber nur auf, wenn man sich entschlösse, sie zu gehen. Thaler unterstreicht die starke Bindung zu Nord- und Osttirol sowie zum „Vaterland Österreich“: „Woher würden wir die Forderung nach Selbstbestimmung nehmen, wenn wir nicht Teil eines abgetrennten Volkes, nämlich des Tiroler Volkes wären. Darauf und auf nichts anderes stützt sich unser moralischer Anspruch auf die Selbstbestimmung.“ Südtirol sei eine der wirtschaftlich stärksten Provinzen Italiens, verliere aber immer mehr den Anschluss an deutsche und österreichische Bundesländer und hinke ihnen immer mehr hinterher.
Seine viel beachtete Rede beendete der SSB-Landeskommandant mit den Worten: „Deshalb werden wir alles daran setzen, dass in unserem Land Schluss ist mit italienischen Verhältnissen.“
„Vollautonomie“ immer weniger glaubwürdig
Italien greift massiv in die Selbstverwaltungsrechte der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol ein. Mit Dekreten und Erlässen wird die dortige Landesregierung zur finanziellen Alimentierung des römischen Finanzbedarfs zur Bewältigung der Überschuldung des Staates gezwungen. Seit Jahrzehnten schieben Italiens Regierungen – egal wer sie jeweils stellt – einen Schuldenberg vor sich her, der rund 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht. Die Regierung Monti hatte allen 20 Regionen und 103 Provinzen aufgegeben, nicht nur selbst zu sparen, sondern er kürzte ihnen zudem die dringend benötigten Zuweisungen aus Rom, ohne die sie ihren Aufgaben kaum nachkommen können.
Bozen-Südtirol und die Nachbarprovinz Trient trifft es dabei überproportional hart. Beide sind aufgrund der politisch-historischen Nachkriegsentwicklung unter dem Dach der Autonomen Region Trentino-Alto Adige „vereint“. Sie sollen doppelt bluten, wobei sich soeben herausstellte, dass es den trickreichen Trentinern gelang, sich bei ihrem Anteil geschickt um zwei Fünftel der eigentlich von beiden Provinzen aufzubringenden und nach Rom zu transferierenden Gesamtsumme herumzudrücken. Für Südtirol allein hat das römische Oktroy zur Folge, dass die Landesregierung für 2013 und 2014 auf gut 850 Millionen Euro verzichten muss – bei einem Landeshaushaltsvolumen von rund fünf Milliarden.
Was ihr Monti aufbürdete, bricht nicht nur das 2010 in Kraft getretene „Mailänder Abkommen“, demzufolge 90 Prozent aller Südtiroler Steuereinnahmen direkt in Bozen verbleiben. Das römische Vorgehen verletzt auch das Autonomiestatut von 1972, mit dem der Jahrzehnte währende Südtirol-Konflikt beendet worden war und Italien Österreichs Schutzfunktion für die Südtiroler anerkannt hatte.
Dieses Abkommen ist nun infrage gestellt: Zum einen verstößt Rom damit, dass es Südtirol finanz-, sozial- und steuerrechtliche Bürden auferlegt, ohne das Einvernehmen mit der dortigen Landesregierung sowie dem Landesparlament gesucht zu haben, klar gegen das Autonomiestatut. Zum andern bedrohen Aussagen, wonach es bezüglich Südtirols um „inneritalienische Probleme“ gehe und die Schutzfunktion Österreichs überholt sei – wie sie just der außerhalb Italiens als Hoffnungsträger erachtete Monti von sich gab – die Respektierung einer internationalen vertraglichen Verpflichtung Italiens.
Damit ist man im Verhältnis Rom-Bozen wieder jener düsteren politischen Existenzform nahe, wie sie vor der formellen, auf UN-Resolutionen aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fußenden italienisch-österreichischen Streitbeilegung bestand, als Rom Südtirol stets als inneritalienische Angelegenheit hingestellt hatte.
Da mögen Landeshauptmann Luis Durnwalder und der Chef der seit 1945 in Bozen regierenden Südtiroler Volkspartei (SVP), Richard Theiner, noch so sehr betonen, Rom habe die Autonomie zu respektieren und Wien schlage sich dafür in die Bresche. Viele Südtiroler besänftigen sie damit ebenso wenig wie ihre eigene Sorge darüber, dass Roms Politik den deutsch-tiroler Oppositionsparteien Aufwind verschafft und die Los-von-Rom-Stimmung begünstigt.
Zwischen Brenner und Salurner Klause gewinnt damit eine Diskussion darüber an Breite, ob der Ende des Ersten Weltkriegs von Italien annektierte und diesem im Friedensvertrag von St. Germain-en-Laye 1919 zugeschlagene südliche Landesteil Tirols im Stiefelstaat verbleiben oder seine Zukunft anderswo suchen sollte. Die Antworten der politischen Kräfte, die in Bozen, Innsbruck und Wien das Sagen haben, lauten: Mit der EU-Mitgliedschaft Österreichs und dem Entfall der Grenzkontrollen habe der Brenner seinen Charakter als „Unrechtsgrenze“ verloren.
SVP schwächelt zunehmend
Und die SVP sieht die Zukunft des Landes in der „Dynamisierung der Autonomie“ – trotz der von Rom betriebenen Kastration. Doch die „Sammelpartei“ SVP hat in den letzten Jahren merklich an Strahlkraft eingebüßt. Ihre Position ist seit der Landtagswahl 2008 geschwächt. Ein Skandal im Landesenergieversorger SEL AG, befördert durch personelle Verflechtungen mit ihr, haben der SVP enorm geschadet.
Derlei hat es unter Silvius Magnago, dem „Vater der Autonomie“, niemals gegeben. Die seit 1945 regierende Partei ist ausgelaugt, führungsschwach, von Flügelkämpfen durchgeschüttelt und durch Skandale angeschlagen. Die SEL-Affäre belastet Durnwalder, ohne den in der Südtiroler Politik seit 1989 nichts lief. Er tritt indes mit Ende der Legislaturperiode ab, weshalb die Parteibasis im Blick auf die Landtagswahl im Herbst unlängst den Spitzenkandidaten für die Nachfolge bestimmte – wobei sich Parteichef Theiner zuvor selbst aus dem Rennen genommen hatte. Es obsiegte Arno Kompatscher, der außerhalb Südtirols unbekannte Bürgermeister der Gemeinde Völs am Schlern, über seinen Mitbewerber Elmar Pichler, den Landesrat und früheren Parteiobmann.
In der Bevölkerung ist das Vertrauen in die „Sammelpartei der deutsch- und der ladinischsprachigen Südtiroler“ geschwunden. Sie weigert sich, über politische Alternativen zur angeblich „weltbesten Autonomie“ auch nur nachzudenken. Trotz deren von Rom aus betriebener Aushöhlung. Von Silvio Berlusconi über Monti bis zum Ex-Kommunisten Pier Luigi Bersani ist stets die Rede davon, den Provinzen und Regionen mit Sonderstatut „(Autonomie-)Privilegien“ zu nehmen.
Und Neu-Senator Francesco Palermo, den sich Parteichef Theiner aufgrund seines – in der SVP umstrittenen und mit dem Scheitern Bersanis höchst fragwürdig gewordenen – Wahlabkommens mit dem linken Partito Democratico (PD) quasi wie eine Laus in den Pelz setzen ließ, bekundete, die Autonomie sei vom „ethnischen Ballast zu befreien“.
Solche Aussagen müssten eigentlich alle Warnlampen aufleuchten lassen. Weit gefehlt. Stattdessen nimmt die SVP hin, dass Rom nicht nur seine vertraglich verbrieften Verpflichtungen nicht einhält; es nimmt offenbar auch ungerührt zur Kenntnis, dass Italien zu den Fußkranken Europas zählt. Und Südtirol damit selbst Teil des Pilzbefalls ist.
Wie es nach der Not-Wiederwahl Giorgio Napolitanos zum Staatspräsidenten und unter dem neuen Ministerpräsidenten Enrico Letta politisch weitergeht, der einer höchst brüchigen „großen Koalition“ aus PD und Berlusconis PdL vorsteht, erahnt man. Daher wird an Eisack und Etsch das „Los von Rom“ stärker, hinter dem sich Freiheitliche (fünf Sitze), Süd-Tiroler Freiheit (zwei Sitze) und Bürger Union (ein Sitz) trotz gelegentlicher, meist personeller Reibereien vereinen. Auch in der Südtiroler Jugend findet dies verstärkt Gehör, und sogar unter Wirtschaftstreibenden wird die Option eines eigenständigen „Südtirol außerhalb Italiens“ nicht (mehr) verworfen.
Herrolt vom Odenwald ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.