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Mehr direkte Demokratie durch konsequente Dezentralisierung

Nicht zuletzt in (stark) sinkenden Wahlbeteiligungen manifestiert sich die zunehmende Politik- und Politikerverdrossenheit. So machten bei der vor kurzem abgehaltenen Landtageswahl in Tirol nur mehr 56 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch und die kürzlich vereinbarte schwarz-grüne Regierung repräsentiert damit zum Zeitpunkt ihrer Angelobung mit ihrem Stimmenanteil von knapp 52 Prozent gar nur mehr 29 Prozent der Wahlberechtigten.

Um das Abgleiten in eine Legitimationskrise zu verhindern, werden von den politischen Parteien unter dem Schlagwort „mehr direkte Demokratie“ unter anderem der Ausbau direktdemokratischer Instrumente wie Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksabstimmungen gefordert sowie die Ausweitung des Instruments der Vorzugstimme vorgeschlagen. Mit derselben Intention, die Beteiligung der Bürger am politischen Prozess zu erleichtern, besteht seit 2012 im Rahmen der EU-Bürgerinitiative für EU-Bürger eine direkte Möglichkeit, die EU-Kommission aufzufordern, einen Rechtsakt vorzuschlagen. Und Vizekanzler Spindelegger hat vor kurzem die Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten durch die Bürger der Mitgliedsstaaten befürwortet.

All diesen Vorschlägen zur stärkeren Bürgerbeteiligung ist jedoch eines gemein. Sie ignorieren eines der größten Übel des gegenwärtigen politischen Systems: die fortschreitende Zentralisierung der Gesetzgebungskompetenz.

Der grundlegende Irrtum besteht darin, die sicherlich ausbaufähigen Formen der Bürgerbeteiligung mit der tatsächlichen politischen Gestaltungsmöglichkeit zu verwechseln. Das politische Ohnmachtgefühl des Einzelnen nährt sich gerade auch aus dem Umstand, dass die eine Stimme eines noch so engagierten Bürgers unter mehr als 500 Millionen Einwohnern in der EU, ja selbst die eine Stimme unter mehr als 8 Millionen Einwohnern in Österreich schlichtweg keinen nachvollziehbaren Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung haben kann. An diesem Größenproblem der politischen Einheiten wird selbst der Ausbau direktdemokratischer Instrumente nichts ändern.

In der Debatte um „mehr direkte Demokratie“ sollte folglich die konsequente Dezentralisierung der Gesetzgebungskompetenz und der damit eng verknüpften Steuerhoheit für die untergeordneten Gemeinwesen in das Zentrum der Auseinandersetzung gerückt werden. Mit anderen Worten: Das Subsidiaritätsprinzip muss wieder ernst genommen werden. Seine klassische Formulierung findet sich in der 1941 veröffentlichten Enzyklika „Quadragesimo Anno“ von Papst Pius XI. Dort heißt es:

„… wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ (Nr. 79)

Die angemessene Rückführung der Gesetzgebungskompetenz auf die untergeordneten Gemeinwesen versetzt den Einzelnen wieder in die Lage, sein unmittelbares Lebensumfeld – allen voran in der Familie, in der Gemeinde und im Bundesland – gemeinsamen mit jenen Menschen zu gestalten, deren Auffassungen vom guten Leben relativ homogen sind. Diese relative Homogenität ist für die Legitimität politischer Beschlüsse unabdingbar, weil politische Entscheidungen ihrem Wesen nach Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen. Mit der Zentralisierung nimmt die Heterogenität der Bevölkerung notwendigerweise zu und politische Entscheidungen fördern gerade in einer sich pluralistisch verstehenden Gesellschaft die gesellschaftlichen Konflikte anstatt die Einheit. Zudem hätte die Stimme des Bürgers, sei es in der Wahlzelle oder in einer öffentlichen Debatte, wieder das ihr zustehende Gewicht, weil sie eine unter überschaubar Vielen und nicht mehr unter unüberschaubar Unzähligen wäre.

Drei weitere Vorteile hätte die verstärkte Rückführung von Kompetenzen an die untergeordneten Gemeinschaften der Gesellschaft. Erstens vermag diese den immer weiter aufgehenden Graben zwischen den Bürgern und den Politikern zu überbrücken, weil sie die enge räumliche, persönliche und kulturelle Bindung zwischen dem Bürger und den das jeweilige Gemeinwesen verkörpernden Politikern überhaupt erst ermöglicht. Der Politiker würde seinerseits konkrete Personen in konkreten Lebensumständen adressieren und wäre nicht mehr versucht, mit inhaltsleeren oder populistischen Parolen und äußerst zweifelhaften Kommunikationstechniken die anonymen Wählermassen für sich zu gewinnen.

Zweitens verhindert die vertikale Gewaltenteilung die das Gemeinwohl bedrohende Machtakkumulation beim Zentralstaat, die durch die horizontale Gewaltenteilung bestenfalls gemildert wird. Die in regelmäßigen Abständen zu vernehmenden Forderungen nach Abschaffung der Nationalstaaten, wie vor kurzem von Staatssekretär Lopatka lanciert, oder nach Abschaffung der Bundesländer begünstigen die weitere Entfremdung der Bürger von der technokratischen Politik-Elite, die sich durch derartige Maßnahmen der direkten und unmittelbaren Kontrolle durch die Bürger entziehen können.

Und drittens wäre die Initiierung eines politischen Prozesses und die Beteiligung daran mit einem wesentlich geringeren (finanziellen) Aufwand möglich.

Vorzüge der vertikalen Gewaltenteilung

Gerade auch die EU würde durch die Rückführung von Kompetenzen und Souveränitätsrechten an die Nationalstaaten ihrem eigenen Wahlspruch „in Vielfalt geeint“ wesentlich besser entsprechen. „In Vielfalt geeint“ kann gerade nicht bedeuten, EU-weite Einheitsgesetze zu beschließen, so als ob einheitliche Gesetze die Voraussetzung für Vielfalt seien. Wohin dieser Uniformitätswahn eines überzogenen Gleichheitsverständnisses führt, zeigt gerade auch die anhaltende und noch lange nicht überwundene Euro-Krise. Die Einheitswährung zwingt die in ihrer Wirtschaftsstruktur und ihren wirtschaftspolitischen Auffassungen höchst unterschiedlichen Mitgliedsstaaten in ein einheitliches, und damit im jeweiligen Einzelfall unpassendes geldpolitisches Korsett.

In einem wohlgeordneten, auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhenden Gemeinwesen würde die jeweils übergeordnete Einheit die untergeordnete Einheit zur Entfaltung der eigenen politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Eigenheiten anregen, damit diese eigenständig und eigenverantwortlich die ihnen zukommenden Aufgaben erfüllen können.

Zudem müssen die übergeordnete Einheit und insbesondere der Staat als höchste Gemeinschaft eines Gemeinwesens die Hinordnung der untergeordneten Einheiten auf das Gemeinwohl des gesamten politischen Gemeinwesens sicherstellen. Die dauerhafte Einverleibung jener Aufgaben, die von den untergeordneten Einheiten zu erfüllen sind, durch die übergeordnete Einheit ist ein schwerwiegender Verstoß gegen die Rechte dieser Gemeinschaften.

So wäre es eigentlich die Aufgabe des Staates, die Familien wieder in die Lage zu versetzen, ihre Erziehungsaufgaben vollumfänglich und (möglichst) eigenständig zu erfüllen, statt den Eltern die Kompetenz der Kindererziehung durch Verstaatlichung scheibchenweise zu entziehen.

Diese „Verwirrung der Gesellschaftsordnung“ bringt nicht die ersehnte Ruhe der Ordnung (Augustinus) sondern die Unordnung führt zu anhaltendem Unfrieden im Gemeinwesen, weswegen es wie immer gilt, die Extreme zu meiden: Den jede Vielfalt erstickenden Einheitsbrei des Zentralismus auf der einen Seite und den jeden Einheitsgedanken ablehnenden Partikularismus auf der anderen Seite.

Eine auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhende politische Ordnung verstanden als „Einheit in wohlgeordneter Vielfalt“ (Thomas von Aquin) ist ein unabdingbarer Puzzlestein in der Bekämpfung der Politik- und Politikerverdrossenheit. Die Aufwertung der untergeordneten und intermediären Gemeinschaften würde das Grundübel der fortschreitenden Zentralisierung bekämpfen und einen bedeutsamen Schritt zur Re-Personalisierung des gesellschaftlichen Miteinanders setzen. Eines seiner äußerst lesenswerten Bücher versah der in seinem Heimatland viel zu wenig bekannte Sozialwissenschafter Leopold Kohr treffend mit dem programmatischen Titel „Vom Ende der Großen – Zurück zum menschlichen Maß.“

Nur durch diese kopernikanische Wende weg von anonymen, bürokratischen und gesichtlosen Großstrukturen hin zu auf persönlichen Beziehungen beruhenden, lebendigen, am gemeinsamen Guten ausgerichteten politischen Einheiten wird es möglich sein, den fortschreitenden Zerfall der intermediären politischen Glieder und den damit eng verbundenen Rückzug der Bürger vom Politischen Einhalt zu gebieten.

Wer vom mündigen Bürger spricht, sollte ihm nicht nur zutrauen seine Stimme an der Wahlurne abzugeben oder öffentlich zu erheben, sondern gerade auch für die lokalen und regionalen Probleme, die er tagtäglich am eigenen Leib verspürt, passende Lösungsvorschläge zu finden und diese in den Gemeinden und Bundesländern gemeinsam mit den Mitbürgern umzusetzen.

Gregor Hochreiter
Vorstand, Oekonomika – Institut für angewandte Ökonomie und christlich-abendländische Philosophie (www.oekonomika.org) 

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